Das große Beben

Für meinen Geschmack hatte ich an den Tagen zuvor schon genug Erdbebenerfahrung gesammelt. Am liebsten hätte ich einfach mein Praktikum weitergemacht und meinen Japanaufenthalt mit ein paar schönen Tagen bei meinem damaligen Freund in Yokohama abgeschlossen. Aber es sollte nicht sein.

Am 11. März hatte ich vormittags von 7 bis 13 Uhr Schicht und danach Mittagspause. Es war gegen 14:30 Uhr als dieses ungeheure Beben losbracht.Zu diesem Zeitpunkt war ich allein in meinem Zimmer und wurde jäh aus meinem Mittagsschlaf gerissen. Erst blieb ich still liegen, doch nach einigen Augenblicken merkte ich, dass dieses Beben stärker war und keine Anstalten machte, bald wieder abzuklingen. Ohne meine Brille auf der Nase kroch ich schnell von meinem Futon hinüber zum Türrahmen. Zusammengekauert wartete ich wieder ein wenig ab, spürte und hörte dann aber, dass Dinge in meinem und in den Nebenräumen umstürzten. Stoßgebete schossen mir durch den Kopf und ich wollte nur noch aus dem Gebäude heraus. Mein Zimmer war im 1. Stock und die Erzitterung unter mir war unheimlich. Als wenn ich betrunken wäre, wankte ich über den Flur, stütze mich an den Wänden ab und klammerte mich am Treppengeländer fest. Im Innenhof war noch eine der Erzieherinnen. Sie war überrascht mich alleine zu sehen. Zusammen wollten wir in das Hauptgebäude. Dort mussten sie erst die schwere Zwischentür aus Stahl von innen wieder öffnen. Sie war wohl geschlossen worden, um mehr Stabilität zu haben. Diesmal waren wirklich alle in Aufruhr angesichts der stetigen und starken Erschütterungen.

Wir liefen durch die Wohngruppe der Kleinkinder nach draußen auf den Vorhof des Hauteingangs. Es war Februar und es war kalt. Wir standen zusammen während es bebte. Die Beben wollten und wollten kein Ende nehmen. Kurzerhand wurde beschlossen, dass wir alle in die Turnhalle des Kinderheims gehen sollten. Dies war einer der sichersten Orte, denn dort gab es nichts, was unvermittelt herabstürzen konnte, alle konnten beisammen sein und die Leitung bzw. ErzieherInnen sich einen Überblick verschaffen. Einige der Mitarbeiter suchten Isomatten, Planen und Decken und da wurde mir klar, dass wir wohl erstmal dort bleiben müssten. Das Beben hatte am Nachmittag begonnen, d.h., der Großteil der Kinder und Jugendlichen war noch in der Schule oder unterwegs zurück ins Heim oder im Kindergarten. Da war natürlich zunächst die größte Sorge, ob denn alle wohlbehalten zurück zu uns kommen könnten und ihnen unterwegs nichts zustoßen würde.

Die Versorgung mit Strom und fließendem Wasser war sofort unterbrochen. Als es dunkel wurde, gaben nur einige Taschenlampen Licht. Zum Glück hatten es alle Kinder und Jugendlichen trotz der Beben geschafft, wohlbehalten zum Heim zu gelangen. Vor allem die Kleinen waren zwar aufgeregt, aber niemandem war etwas ernstes zugestoßen. Ich bekam die Erlaubnis, schnell und vorsichtig gemeinsam mit einer jungen Ordensschwester die wichtigsten Sachen wie Brille, Geld und Reisepass sowie warme Kleidung aus meinem Zimmer zu holen. Inzwischen war das Beben etwas abgeschwächt und die Abstände zischen dem Donnern der Erde größer geworden. Deshalb konnten wir dieses Wagnis eingehen.

Es lag Schnee und es war bitterkalt. Ich dachte daran, ob es wohl meinem Freund unten in Yokohama gut gehen würde, denn wenn es hier so bebte, wie wäre es dann wohl dort? Hat er auch keinen Strom und Wasser? Was war überhaupt passiert?

Das Haustelefon funktionierte nicht (ich hätte in dieser Situation natürlich eh nicht die Leitung besetzen dürfen). So bat ich eine japanische Praktikantin, kurz ihr Handy zu leihen. Ich rief in Yokohama an und zu meiner Verwunderung konnte ich meinem Freund selbst kaum auf Deutsch erklären, was gerade los war (mein Freund konnte Deutsch). Ich war überrascht, wie durcheinander ich offenbar war. Jedenfalls wusste ich dann, dass es wohl nur hier oben relativ schlimm war und es zwar auch dort gebet hatte und es weiter Nachbeben gab, aber nicht so sehr. Ich sagte, es ginge mir gut und brach dann das Telefonat ab, weil ich das Handy nicht länger in Anspruch nehmen wollte. Ich weinte wohl ein wenig aus Dankbarkeit, als ich das Handy zurückgab, was die junge Frau mit Verwunderung sah.

Die folgende Nacht war sehr sehr anstrengend. Das dumpfe Donnern der Erde und das Geräusch der erzitternden Wände war allgegenwärtig. Ich erinnere mich noch gut an die dunkle Halle, die vielen zusammengekauerten Kinder, ErzieherInnen, Mitarbeiter, Schwestern. Daran, dass es kalt war, und daran dass eine Erzieherin namens Yuki mir immer wieder gut zuredete „daijoubu, daijoubu“, „Es ist schon okay. Alles wird gut.“. Sie merkte vielleicht besser als ich selber, dass ich ziemlich schockiert war. Vielleicht konnte sie es mir ansehen. Die Leiterin des Heims, eine deutsche Schwester, kam zu mir und fragte, ob mir kalt sei. Ich verneinte, aber sie fasste mein kaltes Bein an und sagte mit Blick auf die dünne Decke über mir auf Japanisch: „Das reicht doch überhaupt nicht.“ Irgendwo fand sie noch eine Plane, die sie über mir ausbreitete. Ich regte mich nicht und war so ruhig, wie ich eben sein konnte, während es noch immer leicht weiter und weiter bebte.

Vorboten

Das Praktikum war eine spannende, aber auch recht anstrengende Erfahrung für mich. In der Kleinkindergruppe waren 11 Kinder. Zwei von ihnen waren auch vormittags zu Hause, während die anderen Kinder im Kindergarten waren. Mein Tagesablauf sah in etwa so aus: morgens von etwa sieben bis zwölf und nachmittags nochmal von eins bis fünf hatte ich Schicht. Die Zeiten verschoben sich je nach Wochentag etwas. Auch am Samstag musste ich arbeiten. Sonntags war zwar frei, aber als braves Christenkind bin ich mit den Schwestern zur katholischen Kirche gefahren und nahm im Anschluss daran noch Japanischunterricht bei einer freundlichen Dame aus der Gemeinde. Zum Glück sind die Läden auch am Sonntag geöffnet, sonst hätte ich nie meinen Vorrat an Süßigkeiten aufstocken können.

Vormittags mussten vor allem die Hausarbeiten wie Wäsche waschen, Fegen, Staubsaugen und Toiletten schrubben erledigt werden. Oft sind wir auch mit den beiden Kleinen einkaufen gefahren oder auf den Spielplatz gegangen. Zwischen zwei und drei kamen die anderen Kinder vom Kindergarten nach Hause und es wurde immer recht turbulent. Besonders witzig und vor allem nass wurde es, wenn die ganze Bande gebadet werden sollte.

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Am 17.02. wurden die Geburtstage von Miyu und Yuka gefeiert
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Yukas Geburtstagstorte
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Miyus Geburtstagstorte

Mein allererstes Erdbeben erlebte ich bereits am Mittwoch, den 09. März. Ich hatte Mittagspause und war allein in meinem Zimmer, als es plötzlich zu beben begann. Überrascht hörte dann auch noch das Haustelefon im Flur gegenüber von meinem Zimmer klingeln. Ein Mitarbeiter war dran und sagte mir, dass es ein Erdbeben sei und ich bitte runterkommen sollte. Zum Glück war es nicht weiter schlimm gewesen, aber rückblickend war dies ein Vorgeschmack auf das gewesen, was noch kommen sollte.

Japan wird aufgrund der Lage immer wieder von Erdbeben heimgesucht. Kleinere Erdbeben wie dieses am Mittwoch hinterließen deshalb keinen großen Eindruck bei den Erwachsenen. Die Kinder waren da schon aufgewühlter und auch ich musste mir eingestehen, dass Erdbeben eine scheußliche Angelegenheit sind. Sie treten ohne große Vorwarnung auf und ich denke, dass dieser Überraschungseffekt das ist, was mich am meisten beunruhigt hat.

In der Nacht und am Morgen des Donnerstags gab weitere leichte Beben. Am Abend telefonierte ich vorerst das letzte mal mit meiner Mutter und Großmutter. Natürlich erzählte ich ihnen von den Beben, versicherte aber im gleichen Atemzug, dass das normal sei und man sich deshalb keine Sorgen machen müsse.

Vorgeschichte

Ich habe 2008 mein Studium an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf begonnen. Mein Hauptfach war Modernes Japan und als Nebenfach hatte ich Philosophie belegt.

Ich war vor 2011 noch nie im außereuropäischen Ausland gewesen. Natürlich wollte ich unbedingt nach Japan und das Land, über das ich soviel gelernt und gehört hatte, mit eigenen Augen sehen. Endlich wollte ich außerhalb der Uni meine Sprachkenntnisse anwenden und beweisen, dass ich im fremden Japan zurechtkomme.

Das Gymnasium, das ich besucht hatte, war eine von Thuiner Franziskanerinnen geleitete Mädchenschule gewesen. Glücklicherweise gehören gerade diese Ordensfrauen zu der umtriebigeren Sorte. Sie hatten sich auch schon in Japan niedergelassen und leiteten dort verschiedenen Schulen, Kindergärten, Altenheime und auch Kinderheime. Kurzerhand versuchte ich mein Glück und nahm Kontakt zu der Mutter Oberin in Japan auf. Diese wiederum war so nett, den Kontakt zu einer deutschen Schwester in der Präfektur Iwate herzustellen. Dort wollte man mir die Möglichkeit geben, ein Praktikum in einem Kinderheim zu machen. Ich hatte schon vorher Praktika in diesem Bereich absolviert und freute mich sehr auf diese Chance.

Somit begann meine Reise am 06. Februar 2011.

Mein eigentliches Praktikum begann am 14. Februar. In der Vorzeit gaben mir die Schwestern durch ihre unglaubliche Gastfreundschaft die einmalige Gelegenheit, ein wenig durch den Norden Japans zu reisen.

Vom 07.  bis zum 10. Februar war ich zu Gast bei der Oberin in der Stadt Sapporo (Präfektur Hokkaido), wo zu dieser Jahreszeit der Schnee meterhoch liegt und das berühmte Schneefestival stattfindet.

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Verschneite Wege in Sapporo

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Nivea ist auch in Japan groß

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Die Tiere Hokkaidos

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Bühnenshow abends vor eisiger Kulisse

Danach empfing man mich in der Stadt Aomori, die bereits auf der japanischen Hauptinsel Honshu liegt. Dort konnte ich unter anderem ein Altenheim und einen Kinderhort, welche die Schwestern leiten, besichtigen.

Am 12. Februar schließlich erreichte ich Ichinoseki, wo ich mein Praktikum im Kinderheim Fujinosono beginnen sollte. Ich war dort der Kleinkindergruppe zugeteilt.

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Eine kleine Kapelle mit Trum darf natürlich nicht fehlen

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Mein Zimmer mit Futon und …

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Kotatsu! (Kotatsu sind beheizte Tische. Man setzt sich auf ein Kissen und schlüpft unter die Decke, die den Tisch umschließt. So hält man es auch im Winter in den zugigen japanischen Häusern einigermaßen aus.)

Soviel zur Vorgeschichte. Das nächste mal werde ich ein wenig über das Praktikum berichten und dann die Ereignisse rund um den 11. März schildern.

Die Dreifachkatastrophe 2011

Während meines ersten Japanaufenthalts im Jahr 2011 fand das Erdbeben mit Tsunami und anschließendem Atomreaktorunfall in Ostjapan statt. Ich war für ein Praktikum in dem Ort Ichinoseki, der in der Präfektur Iwate liegt.

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(Der schwarze Pfeil markiert meinen Aufenthaltsort; das rote X steht für das Epizentrum)

Das Kinderheim, in dem ich tätig war, wurde von den Auswirkungen des Erdbebends erfasst. Von Freitag bis Montag hatten wir weder Strom noch fließend Wasser und waren aufgrund der Einsturzgefahr innerhalb des Hauptgebäudes gezwungen, in der Trunhalle zu übernachten.
Erst am Montagmorgen nach japanischer Zeit konnte der Strom wieder genutzt werden. Sofort rief ich zu Hause in Deutschland an und erfuhr erst dann von den Ausmaßen der Katastrophe sowie von der akuten Gefahr, die von dem Atomreaktor in Fukushima ausging. Nach einer Beratung mit der Leiterin des Heims entschloss ich mich, nach Deutschland zurückzukehren. Diese Entscheidung ist mir nicht leicht gefallen, aber ich bin noch immer der Überzeugung, dass es das richtige war.
Heimgekehrt nahm ich Kontakt zu meiner ehemaligen Schule auf und bat in Vorträgen vor Schülerinnen und Lehrern darum, für das Kinderheim zu spenden. Denn das Fundament war so sehr in Mitleidenschaft gezogen worden, dass ein Neubau unausweichlich war.
Auch die lokale Presse hat meine Geschichte und meinen Spendenaufruf weitergetragen. Unter diesem Link ist der damalige Artikel zu finden.

http://www.noz.de/lokales/papenburg/artikel/274434/karina-hermes-aus-rhede-betreute-kinder-in-der-nahe-von-fukushima

Dies war natürlich ein sehr einschneidendes Erlebnis für mich. Ich habe mich entschlossen, hier in der nächsten Zeit schrittweise detailliert von den Ereignissen zu erzählen.