Nachtrag 2011

Die Leiterin des Kinderheims hielt mich auf dem Laufenden. Noch lange nach dem 11. März waren die Kinder, Jugendlichen, Schwestern und MitarbeiterInnen von Nachbeben betroffen. Das Fundament des Gebäudes war so sehr beschädigt worden, dass ein Neubau des Heims unausweichlich schien. So lange musste man sich mit den noch bewohnbaren Teilen des Hauses arrangieren bzw. dann in provisorische Unterkünfte umziehen.

Zurück in Deutschland kontaktierte ich zum einen meine Uni, um mich zurück zu melden. Dort sagte man mir, dass man nur noch auf ein Lebenszeichen von mir gewartet hatte. Es waren wohl mehrere Studenten unseres Instituts zur gleichen Zeit in Japan gewesen. Zum anderen nahm ich Kontakt mit meiner alten Schule auf. Es ist ein Mädchengymnasium, das ebenfalls wie das Kinderheim in Trägerschaft der Thunier Franziskanerinnen steht. Ich bat darum, eine Spendenaktion für das Kinderheim ins Leben rufen zu können. Der Schulleiter und sein Vertreter waren gerne bereit, mir diese Gelegenheit zu geben. An zwei Tagen hielt ich mehrere Vorträge vor den Schülerinnen und Lehrern, berichtete  von meinen Erfahrungen und der Lage in Japan. Die lokale Presse war auch anwesend und die Nummer des Spendenkontos fand weite Verbreitung. (Link zum alten Zeitungsartikel: http://www.noz.de/lokales/papenburg/artikel/274434/karina-hermes-aus-rhede-betreute-kinder-in-der-nahe-von-fukushima). Neben privaten Spenden waren unter anderem auch Malteser International und Caritas Österreich am Wiederaufbau des Kinderheims beteiligt.

Als die Genehmigung der Präfektur da war, genügend Gelder bewilligt und Spenden gesammelt waren, begann der Neubau. Die Kinder und Mitarbeiter wurden aktiv in die Gestaltung des neuen Heimes miteinbezogen. Erst im Juni 2013 war das neue Heim komplett fertiggestellt. Das Kinderheim hat nun Platz für 48 Kinder und Jugendliche. Es verfügt über eine gute Isolierung, hat Notfallgeneratoren und Photovoltaikanlagen auf dem Dach. Im Falle eines neuen ebenso starken Erdbebends wie 2011 wird das Gebäude standhalten, da der verwendete Stahlbeton die gesetzlichen Anforderungen mehr als erfüllt. Das Heim ist zudem für die Nachbarschaft zu einem Sammelplatz im Katastrophenfall bestimmt worden.

ichinoseki04

Internetauftritt des Kinderheims http://fujinosono.or.jp/fujino_en_index.html

Flucht Teil 2

Wäre der Flughafen in Akita groß gewesen, ich hätte ernsthaft Probleme bekommen, mich zurecht zu finden. Zunächst suchte ich nach einem Münztelefon, um meinen Freund auf dem Laufenden zu halten und ihn zu bitten, meine Familie über den Stand der Dinge zu informieren. Aufgrund der Notsituation war die Benutzung der Telefone kostenlos.

Ich war nicht die einzige, die an diesem Tag von dort weg wollte. Viele Menschen waren in der Halle und wollten einfach den nächstbesten Flug nehmen. Aus diesem Grund hatte die Fluggesellschaft Wartenummern verteilt, als wären wir beim Amt. Ich hatte Glück, dass ich kurzfristig einen Platz nach Tokyo Haneda erhalten habe. Während des Fluges habe ich mir immer wieder in Gedanken gesagt, dass ich noch eine kleine Weile durchhalten muss, nur noch ein wenig.

In Tokyo Haneda angekommen sagte ich meinem Freund Bescheid und war überglücklich, als ich ihn endlich sehen konnte. Natürlich wünscht man sich beim ersten Treffen mit der Familie des Freundes einen guten Eindruck zu machen. Aber ich hatte tagelang nicht geduscht, war ein reines Nervenbündel und zu nichts mehr zu gebrauchen. Nichts zu machen.

Endlich konnte ich duschen, essen und mich ausruhen. Ich fühlte mich sicher und wäre vielleicht noch länger bei ihnen geblieben, wenn meine Familie nicht darauf bestanden hätte, dass ich sofort den nächsten Flug nach Hause nehme. Ich musste einsehen, dass es das beste war, obwohl mich das sehr traurig machte.

Nach einer schlaflosen Nacht machten wir uns am nächsten Morgen auf den Weg nach Tokyo Narita. Der Flug sollte gegen drei Uhr starten und ich sollte dann in Amsterdam von meiner Familie abgeholt werden. Am riesigen Flughafen Narita war sehr viel los. Ein Angestellter hat uns darüber informiert, dass der Flug sich verlängern würde. Es war ein längerer Zwischenstopp von etwa zwei Stunden in Osaka geplant, da Lufthansa entschieden hatte, ihr Personal von Tokyo nach Osaka zu verlegen. Kurze Zeit später wurde Tokyo von Lufthansa gar nicht mehr angefolgen.

Nach dem gründlichen Security-Check ist mir während dem Weg zum richtigen Gate aufgefallen, dass meine eigentliche Boarding-time schon längst vorbei war. Aber meine Sorge war unbegründet, denn die Boarding-time für den Flug war verlängert worden. Der Kapitän bekundete in einer kurzen Ansprache sein Beileid mit allen, die durch die Katastrophe geschädigt worden waren oder Angehörige verloren hatten. Während des Fluges hatte ich zu meiner Rechten eine nette Japanerin sitzen, mit der ich mich eine ganze Weile unterhielt. Sie hatte Verwandte in Europa zu denen sie nun vorerst wollte. Der Flug kam mir endlos lang vor und ich befand mich ständig zwischen Wachen und Wegnicken.

Es war Nacht, als wir endlich in Amsterdam ankamen. Noch im Flugzeug sah ich vor mir ein junge Mutter, die in einem Tragetuch einen kleinen Säugling dabei hatte. Außerdem hatte sie eine Menge Handgepäck und wirkte recht verlassen. Kurzerhand bot ich meine Hilfe an und griff mir zwei ihrer Taschen. Zusammen gingen wir hinaus in den Flughafen. Zum Glück wurde sie dort von ihrem Mann, der im Ausland arbeitete, abgeholt.

Nachdem ich endlich meinen Koffer gefunden hatte, trat ich in die Empfangshalle. Meine Eltern, mein Bruder und meine Schwester waren da. Alle waren erleichtert, aber auch sehr sehr erschöpft. Gegen halb eins morgens waren wir wieder zu Hause. Sofort habe ich meinem Freund Bescheid gesagt und mich am nächsten Morgen in Ichinoseki gemeldet.

 

Dies ist also die Geschichte meiner Flucht aus Japan. Körperlich war ich wieder zu Hause in Deutschland. In Sicherheit bei meiner Familie. Innerlich war ich noch lange nicht angekommen. Die Umstände der Abreise, die Plötzlichkeit, die Bedrohung von Freunden und Bekannten durch Fukushima usw. haben natürlich weitergewirkt.

Im nächsten Beitrag möchte ich auf die weitere Situation des Kinderheims eingehen und erläutern, wie es dort heute aussieht.

Flucht Teil 1

Der Montag begann mit einer guten Nachricht, denn endlich war der Strom wieder da. Sofort suchte ich die Heimleiterin auf und bat darum, das Telefon benutzen zu dürfen, um zu Hause in Deutschland bei meiner Familie anzurufen. Sie gab noch zu bedenken, dass es in Deutschland gerade mitten in der Nacht war, aber ich war mir hundertprozentig sicher, dass ich jemanden erreichen würde. Ich hatte recht; nach wenigen Augenblicken hatte ich meinen Bruder am anderen Ende der Leitung. Er rief mich zurück, damit das Telefon im Büro frei blieb.

Ich war noch  dabei zu versichern, dass es mir gut geht, als mein Bruder begann darzulegen, welche Gefahr von dem Atomreaktor in Fukushima ausging. Das ganze sei kein Spaß und wir sollten alle zusehen, dass wir von dort wegkämen. …. Von dieser Nachricht war ich mehr oder weniger einfach geschockt. … Sprachlos hörte ich mir an, wie nach meinem Bruder meine Eltern in ähnlicher Weise auf mich einredeten. Außerdem sagte mein Vater, dass ich mich sofort mit der deutschen Botschaft in Tokyo in Verbindung setzen sollte, damit die mir helfen können. Ich nickte, stammelte ein ‚ja‘ oder ‚hai‘ und merkte, wie sich langsam Panik in mir breit machte. Vorerst beendeten wir das Gespräch, damit ich in Tokyo anrufen konnte. Aber gleich danach sollte ich mich wieder zu Hause melden.

Ich legte auf, atmete durch, und machte mich auf die Suche nach der Heimleiterin, um ihr von der Situation zu erzählen. Da ich sie nicht sofort finden konnte, rief ich schnell meinen Freund in Yokohama an. Noch während wir sprachen, kam die Leiterin vorbei, ich legte auf und wir gingen zusammen in ihr Büro zurück, um die Botschaft anzurufen. Dort war kein Durchkommen für uns. Alle Leitungen waren belegt.

Wie verabredet, telefonierte ich wieder mit meiner Familie. Sie hatten regelrecht einen Fluchtplan für mich entworfen und ich musste mir alle Mühe geben, dem zu folgen. Punkt eins: Geld auftreiben; Punkt zwei: immer wieder versuchen, zur Botschaft durchzukommen; Punkt drei: Abreise vorbereiten. Sollte Punkt zwei nicht funktionieren, müsste ich versuchen, mit Bus, Bahn oder mit Taxi von dort wegzukommen. Der nächstgelegene Flughafen war in der Stadt Akita, die sich nordwestlich von Ichinoseki befindet. Von dort sollte ich einen Flug entweder nach Norden nach Sapporo oder nach Süden Richtung Tokyo/Yokohama nehmen. Nachdem sie mir diese Schritte eingetrichtert hatten, sagten sie mir nochmals, dass ich auf keinen Fall im Kinderheim bleiben könnte. Denn ich könnte sowieso nicht helfen und in einer solchen Situation müsse man auch an sich selber denken.

Ich wusste, dass sie recht hatten und ich spürte ihre Sorge. Meine Familie neigt nicht zu Gefühlsausbrüchen oder gar hysterischem Verhalten. Gerade deshalb merkte ich die Ernsthaftigkeit der Lage an der Intensität, mit der sie auf mich einredeten und zugleich versuchten, mich nicht unnötig zu beunruhigen.

Mit aller Mühe versuchte ich mich auf den nächsten Schritt zu konzentrieren. Geld besorgen. Zwar hatte ich eine Kreditkarte dabei, aber wer schon einmal in Japan war, weiß, dass Bargeld oftmals lieber gesehen wird. Vor allem in einer solchen Lage konnte es nicht verkehrt sein, genug Bargeld zu haben. Ohne Umschweife ging ich in die Stadt, in der Hoffnung, irgendwo einen funktionierenden Geldautomaten zu finden. Weder die kleineren sogenannten Combini noch das große Einkaufzentrum, wo ich hätte Geld abheben können, hatten geöffnet. Die Straßen der Stadt waren mit Autos zugestopft. Vielleicht waren sie auch auf der Suche nach geöffneten Geschäften oder auf dem Weg raus aus der Stadt, weg aus der Gefahrenzone.

Zurück im Heim konnte ich bei der Botschaft noch immer niemanden erreichen. Es blieb mir also nur, den von meiner Familie vorgezeichneten Plan in Angriff zu nehmen. Plötzlich stand ich furchtbar allein da. Ich würde losfahren, ungewiss, ob ich an irgendeinem Punkt einfach nicht mehr weiterkommen würde. Und auch ohne Handy. Da ich nur für ein paar Wochen geplant hatte, in Japan zu sein, hatte ich mir nicht extra ein Handy besorgt.

Der Entschluss stand fest. Ich musste mit einem Taxi, da Busse und Bahnen nicht fuhren, bis nach Akita druchkommen. Gücklicherweise war ein Taxiunternehmen bereit, den Versuch zu wagen. Sie merkten aber an, dass es wohl um die 60.000 Yen kosten würde. Da mein Vater mir ausdrücklich gesagt hatte, dass Geld nun wirklich keine Rolle spielte, habe ich das Angebot angenommen. Zu meiner großen Erleichterung bot die Heimleiterin zudem an, mir genügend Bargeld zu geben.

So schnell ich konnte, packte ich meine wenigen Sachen zusammen und verabschiedete mich von den Kindern, MitarbeiterInnen und Schwestern. Überfordert von der Lage und mit einem schlechten Gewissen ihnen gegenüber konnte ich die Tränen nicht zurückhalten. Ich fühlte mich als Verräterin, konnte ihnen aber nicht helfen. Unterwegs nach Akita sah ich verlassene Züge, die einfach auf Brücken mitten in der Landschaft standen. Lange Zeit fuhren wir über Landstraßen oder Bundesstraßen. Erst später konnten wir auf die Autobahn wechseln. Nach etwa 2 1/2 Stunden erreichten wir den kleinen Flughafen.

Erst in dieser Situation habe ich eine Ahnung davon bekommen, wie sehr Menschen, die zur Flucht gezwungen sind, innerlich zerrissen sein müssen. Sie können wegen der Gefahr nicht bleiben, wollen aber zugleich nicht gehen, weil es ihre Heimat, ihre Familie oder liebe Menschen sind, die sie zurücklassen müssen.

Die Tage danach

Am Morgen des nächsten Tages wurden die Schäden sichtbar. Gemeinsam mit den ErzieherInnen und Schwestern habe ich versucht, notdürftig im Wohnbereich der Kleinkindergruppe aufzuräumen. Im Grunde hätten wir es auch lassen können. Aber angesichts von unkontrollierbaren Naturgewalten überkommt die Menschen wohl der Drang, etwas zu tun, etwas zu unternehmen.

Es waren riesige Risse in der Mauer zu sehen. Fliesen waren von den Wänden gesprungen, alles war staubig wie auf einer Baustelle. Von einem Nachbarn haben wir uns ein wenig Wasser besorgt, um mit dem Aufräumen zu beginnen und den Boden zu wischen. Auch der Beton der Straße vor der Einrichtung wies Risse auf. Immer wieder erinnerten uns die Nachbeben daran, dass es noch nicht durchgestanden war.

Nach dem wenigen, was man aktiv tun konnte, blieb nur das Abwarten und Ausharren. Da alle ErzieherInnen des Heimes bei uns waren, war es nicht relevant, ob ich nun in der Turnhalle rumsaß oder nicht. So streifte ich tagsüber durch die verlassenen Straßen und habe einige wenige Bilder gemacht. Direkt Bilder vom Heim oder von der Situation der Kinder, Jugendlichen und Mitarbeiter zu machen, war mir zuwider. Irgendwie empfand ich das als unangebracht; als Katastrophentourismus.

Aufgrund der Kälte und der Angst waren alle recht erschöpft. Ich war irgendwann nicht mehr recht in der Lage, vernünftig mit Stäbchen zu essen, weil meine Hände so sehr zitterten. Ohne Wasser konnten wir uns nicht duschen, keine Toilettenspülung betätigen oder vernünftig Zähneputzen. Diese Kleinigkeiten waren einfach nicht mehr möglich.

Die Mitarbeiter schafften es mithilfe der Vorräte, ein einigermaßen normales Essen zusammenzustellen. Die Portionen waren rationiert, aber ich hatte sowieso keinen großen Appetit. Außerdem sagte ich mir: Japan ist eine Industrienation und kein Land in Afrika. Bald kommt von außen mehr Hilfe und die Lage wird schnell wieder stabil sein, auch wenn es jetzt noch leichte Beben gibt.

Am Sonntag wurde klar, dass weder Busse noch Züge fuhren, da die Straßen und Gleise zu schwer beschädigt waren. Außerdem hörte ich davon, dass ein Atomkraftwerk uns noch zum Problem werden könnte und dass dort irgendwas geschehen sei. Weder wusste ich, wie akut diese Bedrohnung war, noch wo dieses Atomkraftwerk war. Zudem standen für mich die direkten Probleme eindeutig im Vordergrund. Zum Beispiel hatte ein kleiner Junge aus meiner Gruppe am Sonntagmorgen Fieber bekommen.

Zwar war es auch jetzt noch immer am beben, aber tagsüber war es leichter, dieses unsichere und unheimliche Gefühl zu ignorieren. Wohl auch, weil man sich selber bewegen und ablenken konnte. Nachts aber, wenn es stockduster wurde, die Wände zitterten, die Kälte durch die Kleidung kroch und neben dem dumpfen Donnern der Nachbeben die Sirenen von Feuerwehr und Polizei das einzige ist, was zu hören war, dann machte sich die Angst wieder breit.

Es ist ein sehr seltsames Gefühl, wenn man so völlig aus jeglicher Routine geworfen wird und sich plötzlich in einem Katastrophengebiet befindet. Oft dachte ich bei mir: Das ist doch nicht wahr. Es war einfach unbegreiflich für mich. Die Zeit nach dem Beben läuft in meiner Erinnerung oft surreal ab. So als wenn es ein Film ist, den ich mir ansehe.

Von der Außenwelt abgeschnitten, hatte ich keine Ahnung davon, welche Informationen in Deutschland über das Erdbeben durch die Medien gingen. Ich hoffte einfach, dass sie sich wohl nicht zu viele Sorgen machten und alles bald wieder gut sei.

Das große Beben

Für meinen Geschmack hatte ich an den Tagen zuvor schon genug Erdbebenerfahrung gesammelt. Am liebsten hätte ich einfach mein Praktikum weitergemacht und meinen Japanaufenthalt mit ein paar schönen Tagen bei meinem damaligen Freund in Yokohama abgeschlossen. Aber es sollte nicht sein.

Am 11. März hatte ich vormittags von 7 bis 13 Uhr Schicht und danach Mittagspause. Es war gegen 14:30 Uhr als dieses ungeheure Beben losbracht.Zu diesem Zeitpunkt war ich allein in meinem Zimmer und wurde jäh aus meinem Mittagsschlaf gerissen. Erst blieb ich still liegen, doch nach einigen Augenblicken merkte ich, dass dieses Beben stärker war und keine Anstalten machte, bald wieder abzuklingen. Ohne meine Brille auf der Nase kroch ich schnell von meinem Futon hinüber zum Türrahmen. Zusammengekauert wartete ich wieder ein wenig ab, spürte und hörte dann aber, dass Dinge in meinem und in den Nebenräumen umstürzten. Stoßgebete schossen mir durch den Kopf und ich wollte nur noch aus dem Gebäude heraus. Mein Zimmer war im 1. Stock und die Erzitterung unter mir war unheimlich. Als wenn ich betrunken wäre, wankte ich über den Flur, stütze mich an den Wänden ab und klammerte mich am Treppengeländer fest. Im Innenhof war noch eine der Erzieherinnen. Sie war überrascht mich alleine zu sehen. Zusammen wollten wir in das Hauptgebäude. Dort mussten sie erst die schwere Zwischentür aus Stahl von innen wieder öffnen. Sie war wohl geschlossen worden, um mehr Stabilität zu haben. Diesmal waren wirklich alle in Aufruhr angesichts der stetigen und starken Erschütterungen.

Wir liefen durch die Wohngruppe der Kleinkinder nach draußen auf den Vorhof des Hauteingangs. Es war Februar und es war kalt. Wir standen zusammen während es bebte. Die Beben wollten und wollten kein Ende nehmen. Kurzerhand wurde beschlossen, dass wir alle in die Turnhalle des Kinderheims gehen sollten. Dies war einer der sichersten Orte, denn dort gab es nichts, was unvermittelt herabstürzen konnte, alle konnten beisammen sein und die Leitung bzw. ErzieherInnen sich einen Überblick verschaffen. Einige der Mitarbeiter suchten Isomatten, Planen und Decken und da wurde mir klar, dass wir wohl erstmal dort bleiben müssten. Das Beben hatte am Nachmittag begonnen, d.h., der Großteil der Kinder und Jugendlichen war noch in der Schule oder unterwegs zurück ins Heim oder im Kindergarten. Da war natürlich zunächst die größte Sorge, ob denn alle wohlbehalten zurück zu uns kommen könnten und ihnen unterwegs nichts zustoßen würde.

Die Versorgung mit Strom und fließendem Wasser war sofort unterbrochen. Als es dunkel wurde, gaben nur einige Taschenlampen Licht. Zum Glück hatten es alle Kinder und Jugendlichen trotz der Beben geschafft, wohlbehalten zum Heim zu gelangen. Vor allem die Kleinen waren zwar aufgeregt, aber niemandem war etwas ernstes zugestoßen. Ich bekam die Erlaubnis, schnell und vorsichtig gemeinsam mit einer jungen Ordensschwester die wichtigsten Sachen wie Brille, Geld und Reisepass sowie warme Kleidung aus meinem Zimmer zu holen. Inzwischen war das Beben etwas abgeschwächt und die Abstände zischen dem Donnern der Erde größer geworden. Deshalb konnten wir dieses Wagnis eingehen.

Es lag Schnee und es war bitterkalt. Ich dachte daran, ob es wohl meinem Freund unten in Yokohama gut gehen würde, denn wenn es hier so bebte, wie wäre es dann wohl dort? Hat er auch keinen Strom und Wasser? Was war überhaupt passiert?

Das Haustelefon funktionierte nicht (ich hätte in dieser Situation natürlich eh nicht die Leitung besetzen dürfen). So bat ich eine japanische Praktikantin, kurz ihr Handy zu leihen. Ich rief in Yokohama an und zu meiner Verwunderung konnte ich meinem Freund selbst kaum auf Deutsch erklären, was gerade los war (mein Freund konnte Deutsch). Ich war überrascht, wie durcheinander ich offenbar war. Jedenfalls wusste ich dann, dass es wohl nur hier oben relativ schlimm war und es zwar auch dort gebet hatte und es weiter Nachbeben gab, aber nicht so sehr. Ich sagte, es ginge mir gut und brach dann das Telefonat ab, weil ich das Handy nicht länger in Anspruch nehmen wollte. Ich weinte wohl ein wenig aus Dankbarkeit, als ich das Handy zurückgab, was die junge Frau mit Verwunderung sah.

Die folgende Nacht war sehr sehr anstrengend. Das dumpfe Donnern der Erde und das Geräusch der erzitternden Wände war allgegenwärtig. Ich erinnere mich noch gut an die dunkle Halle, die vielen zusammengekauerten Kinder, ErzieherInnen, Mitarbeiter, Schwestern. Daran, dass es kalt war, und daran dass eine Erzieherin namens Yuki mir immer wieder gut zuredete „daijoubu, daijoubu“, „Es ist schon okay. Alles wird gut.“. Sie merkte vielleicht besser als ich selber, dass ich ziemlich schockiert war. Vielleicht konnte sie es mir ansehen. Die Leiterin des Heims, eine deutsche Schwester, kam zu mir und fragte, ob mir kalt sei. Ich verneinte, aber sie fasste mein kaltes Bein an und sagte mit Blick auf die dünne Decke über mir auf Japanisch: „Das reicht doch überhaupt nicht.“ Irgendwo fand sie noch eine Plane, die sie über mir ausbreitete. Ich regte mich nicht und war so ruhig, wie ich eben sein konnte, während es noch immer leicht weiter und weiter bebte.

Vorboten

Das Praktikum war eine spannende, aber auch recht anstrengende Erfahrung für mich. In der Kleinkindergruppe waren 11 Kinder. Zwei von ihnen waren auch vormittags zu Hause, während die anderen Kinder im Kindergarten waren. Mein Tagesablauf sah in etwa so aus: morgens von etwa sieben bis zwölf und nachmittags nochmal von eins bis fünf hatte ich Schicht. Die Zeiten verschoben sich je nach Wochentag etwas. Auch am Samstag musste ich arbeiten. Sonntags war zwar frei, aber als braves Christenkind bin ich mit den Schwestern zur katholischen Kirche gefahren und nahm im Anschluss daran noch Japanischunterricht bei einer freundlichen Dame aus der Gemeinde. Zum Glück sind die Läden auch am Sonntag geöffnet, sonst hätte ich nie meinen Vorrat an Süßigkeiten aufstocken können.

Vormittags mussten vor allem die Hausarbeiten wie Wäsche waschen, Fegen, Staubsaugen und Toiletten schrubben erledigt werden. Oft sind wir auch mit den beiden Kleinen einkaufen gefahren oder auf den Spielplatz gegangen. Zwischen zwei und drei kamen die anderen Kinder vom Kindergarten nach Hause und es wurde immer recht turbulent. Besonders witzig und vor allem nass wurde es, wenn die ganze Bande gebadet werden sollte.

SAMSUNG DIGITAL CAMERA
Am 17.02. wurden die Geburtstage von Miyu und Yuka gefeiert
SAMSUNG DIGITAL CAMERA
Yukas Geburtstagstorte
SAMSUNG DIGITAL CAMERA
Miyus Geburtstagstorte

Mein allererstes Erdbeben erlebte ich bereits am Mittwoch, den 09. März. Ich hatte Mittagspause und war allein in meinem Zimmer, als es plötzlich zu beben begann. Überrascht hörte dann auch noch das Haustelefon im Flur gegenüber von meinem Zimmer klingeln. Ein Mitarbeiter war dran und sagte mir, dass es ein Erdbeben sei und ich bitte runterkommen sollte. Zum Glück war es nicht weiter schlimm gewesen, aber rückblickend war dies ein Vorgeschmack auf das gewesen, was noch kommen sollte.

Japan wird aufgrund der Lage immer wieder von Erdbeben heimgesucht. Kleinere Erdbeben wie dieses am Mittwoch hinterließen deshalb keinen großen Eindruck bei den Erwachsenen. Die Kinder waren da schon aufgewühlter und auch ich musste mir eingestehen, dass Erdbeben eine scheußliche Angelegenheit sind. Sie treten ohne große Vorwarnung auf und ich denke, dass dieser Überraschungseffekt das ist, was mich am meisten beunruhigt hat.

In der Nacht und am Morgen des Donnerstags gab weitere leichte Beben. Am Abend telefonierte ich vorerst das letzte mal mit meiner Mutter und Großmutter. Natürlich erzählte ich ihnen von den Beben, versicherte aber im gleichen Atemzug, dass das normal sei und man sich deshalb keine Sorgen machen müsse.

Vorgeschichte

Ich habe 2008 mein Studium an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf begonnen. Mein Hauptfach war Modernes Japan und als Nebenfach hatte ich Philosophie belegt.

Ich war vor 2011 noch nie im außereuropäischen Ausland gewesen. Natürlich wollte ich unbedingt nach Japan und das Land, über das ich soviel gelernt und gehört hatte, mit eigenen Augen sehen. Endlich wollte ich außerhalb der Uni meine Sprachkenntnisse anwenden und beweisen, dass ich im fremden Japan zurechtkomme.

Das Gymnasium, das ich besucht hatte, war eine von Thuiner Franziskanerinnen geleitete Mädchenschule gewesen. Glücklicherweise gehören gerade diese Ordensfrauen zu der umtriebigeren Sorte. Sie hatten sich auch schon in Japan niedergelassen und leiteten dort verschiedenen Schulen, Kindergärten, Altenheime und auch Kinderheime. Kurzerhand versuchte ich mein Glück und nahm Kontakt zu der Mutter Oberin in Japan auf. Diese wiederum war so nett, den Kontakt zu einer deutschen Schwester in der Präfektur Iwate herzustellen. Dort wollte man mir die Möglichkeit geben, ein Praktikum in einem Kinderheim zu machen. Ich hatte schon vorher Praktika in diesem Bereich absolviert und freute mich sehr auf diese Chance.

Somit begann meine Reise am 06. Februar 2011.

Mein eigentliches Praktikum begann am 14. Februar. In der Vorzeit gaben mir die Schwestern durch ihre unglaubliche Gastfreundschaft die einmalige Gelegenheit, ein wenig durch den Norden Japans zu reisen.

Vom 07.  bis zum 10. Februar war ich zu Gast bei der Oberin in der Stadt Sapporo (Präfektur Hokkaido), wo zu dieser Jahreszeit der Schnee meterhoch liegt und das berühmte Schneefestival stattfindet.

SAMSUNG DIGITAL CAMERA

Verschneite Wege in Sapporo

SAMSUNG DIGITAL CAMERA

Nivea ist auch in Japan groß

SAMSUNG DIGITAL CAMERA

Die Tiere Hokkaidos

SAMSUNG DIGITAL CAMERA

Bühnenshow abends vor eisiger Kulisse

Danach empfing man mich in der Stadt Aomori, die bereits auf der japanischen Hauptinsel Honshu liegt. Dort konnte ich unter anderem ein Altenheim und einen Kinderhort, welche die Schwestern leiten, besichtigen.

Am 12. Februar schließlich erreichte ich Ichinoseki, wo ich mein Praktikum im Kinderheim Fujinosono beginnen sollte. Ich war dort der Kleinkindergruppe zugeteilt.

SAMSUNG DIGITAL CAMERA

Eine kleine Kapelle mit Trum darf natürlich nicht fehlen

SAMSUNG DIGITAL CAMERA

Mein Zimmer mit Futon und …

SAMSUNG DIGITAL CAMERA

Kotatsu! (Kotatsu sind beheizte Tische. Man setzt sich auf ein Kissen und schlüpft unter die Decke, die den Tisch umschließt. So hält man es auch im Winter in den zugigen japanischen Häusern einigermaßen aus.)

Soviel zur Vorgeschichte. Das nächste mal werde ich ein wenig über das Praktikum berichten und dann die Ereignisse rund um den 11. März schildern.

Die Dreifachkatastrophe 2011

Während meines ersten Japanaufenthalts im Jahr 2011 fand das Erdbeben mit Tsunami und anschließendem Atomreaktorunfall in Ostjapan statt. Ich war für ein Praktikum in dem Ort Ichinoseki, der in der Präfektur Iwate liegt.

shindomap_2011-03-11_tohoku_earthquake

(Der schwarze Pfeil markiert meinen Aufenthaltsort; das rote X steht für das Epizentrum)

Das Kinderheim, in dem ich tätig war, wurde von den Auswirkungen des Erdbebends erfasst. Von Freitag bis Montag hatten wir weder Strom noch fließend Wasser und waren aufgrund der Einsturzgefahr innerhalb des Hauptgebäudes gezwungen, in der Trunhalle zu übernachten.
Erst am Montagmorgen nach japanischer Zeit konnte der Strom wieder genutzt werden. Sofort rief ich zu Hause in Deutschland an und erfuhr erst dann von den Ausmaßen der Katastrophe sowie von der akuten Gefahr, die von dem Atomreaktor in Fukushima ausging. Nach einer Beratung mit der Leiterin des Heims entschloss ich mich, nach Deutschland zurückzukehren. Diese Entscheidung ist mir nicht leicht gefallen, aber ich bin noch immer der Überzeugung, dass es das richtige war.
Heimgekehrt nahm ich Kontakt zu meiner ehemaligen Schule auf und bat in Vorträgen vor Schülerinnen und Lehrern darum, für das Kinderheim zu spenden. Denn das Fundament war so sehr in Mitleidenschaft gezogen worden, dass ein Neubau unausweichlich war.
Auch die lokale Presse hat meine Geschichte und meinen Spendenaufruf weitergetragen. Unter diesem Link ist der damalige Artikel zu finden.

http://www.noz.de/lokales/papenburg/artikel/274434/karina-hermes-aus-rhede-betreute-kinder-in-der-nahe-von-fukushima

Dies war natürlich ein sehr einschneidendes Erlebnis für mich. Ich habe mich entschlossen, hier in der nächsten Zeit schrittweise detailliert von den Ereignissen zu erzählen.