Mädchen zu vermieten

Während meines Studiums bin ich immer wieder über ein bestimmtes Thema gestolpert, das ich damals leider nicht weiter vertiefen konnte. Bei diesem Thema, das sowohl Phänomen als auch Problem der japanischen Gesellschaft ist, handelt es sich um das sogenannte JK business. Diesem Blogartikel gehen keine umfassenden wissenschaftlichen Recherchen voraus, dennoch möchte ich erste Aspekte nennen, die mir bei diesem Thema zu denken geben. Wenn jemand sich mit JK business gut auskennt, insbesondere auch mit dem rechtlichen Hintergrund, dazu geforscht hat o. ä. wäre ich sehr dankbar für weitere Infos, konstruktive Kritik und Hinweise.

JK für das japanische Wort für Schülerin einer Oberschule (joshi kokosei) und business ist im Sinne von Geschäft / Geschäfte zu verstehen. Genau genommen ist JK business eine Unterkategorie von enjokosai. Enjokosai bedeutet soviel wie „vergütete Dates“ und hat auf den ersten Blick Ähnlichkeit mit dem, was Escortservice oder Hostess mit einschließt. Bei enjokosai bietet normalerweise eine Frau ihre Dienste und ihre Zeit einem Mann an. Diese Dates können alles von einfachen Unterhaltungen, Massagen, Restaurantbesuchen bis hin zu Sex beinhalten. Es wird vermutet, dass enjokosai und ähnliches sich in Japan in vielen Varianten entwickelt hat, da offene Prostitution gesetzlich seit 1958 verboten ist. Es wäre einfach, enjokosai und das ganze JK business abzuhaken als eine der vielen seltsamen und komischen Dinge, die die japanische Gesellschaft an „Unterhaltung und Amüsement“ zu bieten hat. (Wieso sollte ein Mann eine fremde Frau dafür anheuern, dass er ihr seine Sorgen und Nöte erzählen kann, während sie ihm die Ohren säubert?) Aber so seltsam manches scheinen mag, solange gegenseitige Zustimmung und Regeln beachtet werden und keine Minderjährigen darin involviert sind, ist dagegen aus meiner Sicht nicht viel zu sagen.

Womit wir auch schon beim springenden Punkt sind. Denn beim JK business handelt es sich naturgemäß um Dienste, die von Schülerinnen angeboten werden, die oft noch nicht 18 Jahre alt sind. Kunden dieser Mädchen sind meist Männer mittleren Alters, denen die Mädchen verschiedene Services anbieten. Offiziell beinhaltet das Angebot unschuldig anmutende Dinge wie Restaurantbesuche, Besuche in Karaokebars, Spaziergänge, Unterhaltungen oder Wahrsagen. Viele Kunden bezahlen die Mädchen nicht nur, sondern schenken ihnen außerdem Markenkleidung oder Accessoires.

Es besteht dabei eine große Gefahr für die Mädchen von verschiedenen Seiten unter Druck gesetzt zu werden, in gefährliche Situationen zu geraten oder Opfer von Missbrauch zu werden. Sowohl Mädchen und junge Frauen aus dem Bereich als auch Aktivisten gegen Kindesmissbrauch und Menschenhandeln berichten, dass hinter dem JK business undurchsichtige Organisationsstrukturen stecken und eventuell auch die Yakuza, also die japanische Mafia, ein Interesse an diesen Geschäften hat.

Es ist sehr einfach für Mädchen, an diese Jobs zu geraten. Sie können sich zum Beispiel im Internet auf der Seite eines Shops registrieren. Werden sie genommen, macht der Shop für die Mädchen Dates mit den Kunden aus. Außerdem stehen die Mädchen oft auf belebten Straßen der Großstädte mit ihren Fotos und Flyern, die sie an potentielle Kunden verteilen.  Es ist also nicht überraschend, wenn man durch Ikebukuro oder Akihabara läuft und von Mädchen in Schuluniformen angesprochen wird, die Massagen oder Handlesen anbieten.

Da diese Dienste nicht direkt gegen das Anti-Prostitutionsgesetz oder den Jugendschutz verstoßen, haben Polizei und Sozialarbeiter keine rechte Handhabe. Einige japanische Präfekturen versuchen dagegen vorzugehen, indem sie JK business durch unter 18jährige komplett verbieten. Auch sind in dem Medien von Zeit zu Zeit Razzien zu sehen, wo die Polizei einige JK business Shops durchsucht und schließt. Doch bis jetzt scheint es kein probates Mittel zu geben, um diese Geschäfte vollständig unter Kontrolle zu bekommen.

Ein Problem, dass mit JK business zusammenhängt, ist meiner Vermutung nach, dass die Gesellschaft sich zu sehr auf das Verhalten und Benehmen der Mädchen und jungen Frauen konzentriert, statt sich zu fragen, warum es toleriert wird, dass Männer in dieser Art und Weise ihrem Interesse an jungen und minderjährigen Mädchen weiter nachgehen. Es wäre wohl sehr blauäugig zu glauben, dass alle diese Männer sich nur ein wenig unterhalten möchten.

An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass ich die ganze Art und Weise, wie die japanische Gesellschaft das Interesse von Männern an Schulmädchen fördert, problematisch finde. Man braucht nur kurz an die omnipräsenten Popbands zu denken, die aus Schulmädchen zusammengecastet sind. Zielgruppe sind gestresste männliche Angestellte, deren Fantasien befeuert werden durch suggestive Songs mit Titeln wie „Meine Schuluniform ist mir im Weg“ oder „Liebe einer Jungfrau“, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Absicht und Motivation der Kunden bzw. Fans mögen sehr unterschiedlich sein. Mir scheint es jedoch so, dass sowohl JK business als auch die Popbands den Männern das Gefühl geben, als wohlwollende Gönner und Beschützer tätig zu werden, wodurch herkömmliche Rollenbilder bestätigt werden. Das ist ein Gegensatz zur Realität, in der auch in Japan Frauen immer unabhängiger werden und in Bereiche des Lebens vordringen, die zuvor nur von Männern besetzt worden sind. Frauen machen Karriere, stehen für sich selbst ein und zeigen mehr Selbstbewusstsein. Dies mag für einige Männer bedrohlich wirken. Für solche Männer können die Mädchen als Bestätigung althergebrachter Rollenvorstellungen fungieren.

Natürlich ist nicht ausgeschlossen, dass einigen Kunden auch einfach nur der zwischenmenschliche Kontakt fehlt, ohne dass sie dabei sexuelle Absichten im Hinterkopf haben. Aber, um es klar zu sagen, andere „Kunden“ versuchen wiederum, ihre sexuellen Fantasien auszuleben; wieder andere glauben so, Macht über Mädchen und Frauen ausüben zu können, denn sie haben ja dafür gezahlt.

Was könnten die Gründe für die Mädchen sein, im JK business zu arbeiten? Zunächst ist so ein Job eine gute Möglichkeit, schnell relativ viel Geld zu verdienen. Oft erhalten die Mädchen doppelt soviel Geld, wie ihre Freunde mit anderen Jobs. Dazu gibt es bei manchen Kunden noch extra Geschenke und Aufmerksamkeiten, was natürlich verführerisch ist.

Natürlich mag auch die naive Neugierde von jungen Menschen eine Rolle spielen und die Mädchen dazu bringen, es einfach mal auszuprobieren. Dadurch können sie sich auch mit den anderen vergleichen und herausfinden, was sie selbst so „wert“ sind.

Außerdem kann die Arbeit im JK business als ein Akt der Rebellion gegen Eltern, Familie, Schule und der Gesellschaft als Ganzem angesehen werden. Mädchen können es als ein Mittel verstehen, dadurch trotzig ihre Antihaltung gegen Moralvorschriften zum Ausdruck zu bringen.

Dann gibt es noch die Mädchen, die einen schwierigen persönlichen Hintergrund haben. Deren Familie zerrüttet ist, und die nicht wissen, an wen sie sich wenden oder wem sie vertrauen können. Solche Mädchen sind leichte Opfer. Mit ein bisschen Aufmerksamkeit fühlen sie sich wertgeschätzt, gewollt und gebraucht.

Des Weiteren spielen Armut und frühere Gewalterfahrungen eine Rolle. Auch in Japan gibt es Kinder und Jugendliche, die durch das soziale Auffangnetz fallen und sich aus purer Not von Fremden zum Essen einladen lassen und im Gegenzug mit ihrem Körper bezahlen. Einige Mädchen berichten, dass sie in der Vergangenheit auch negative Erfahrungen mit Sozialarbeitern oder staatlichen Fürsorgeeinrichtungen gemacht haben und möglichst nichts mehr mit denen zu tun haben möchten.

In der gegenwärtigen Rechtslage haben Sozialarbeiter und Polizei bis jetzt wenig Handhabe und Mittel, gegen organisierte zwielichtige Geschäfte vorzugehen. Gleichzeitig hat sich auch privates Engagement dem Problem angenommen. Ein Beispiel ist COLABO, eine Organisation, die von Frau Yumeno Nito gegründet wurde. Als Jugendliche ist sie selbst von zu Hause davongelaufen und teilt die Erfahrung des Verlorenseins und der Verzweiflung mancher Mädchen und jungen Frauen. Einige von Nitos Freunden arbeiteten ebenfalls im JK business, einige wurden verletzt oder ausgebeutet und andere begingen schließlich Selbstmord.

Nito versucht nun, jungen Frauen und Mädchen in ähnlich schwierigen Lagen zu helfen. Beispielsweise geht sie nachts hinaus auf die Straßen von Tokyo und spricht Mädchen an, die Probleme zu haben scheinen. Sie bietet ihnen ein warmes Essen und einen Platz zum Ausruhen. Indem sie sich um sie kümmert, ihnen zuhört und ihnen Aufmerksamkeit schenkt, hofft Nito, dass die Mädchen nach und nach Vertrauen fassen, über ihre Probleme reden und sich von ihr und anderen helfen lassen. Sie möchte, dass die Mädchen einen Weg herausfinden aus diesen “Jobs”, aus Druck und Scham. Nicht selten geben die Mädchen sich selbst die Schuld und die Verantwortung dafür, wenn ihnen etwas schlimmes widerfahren ist. Nito betont deshalb umso vehementer, dass die Gesellschaft aufhören muss, die Mädchen als die Verantwortlichen zu sehen, und stattdessen nach den Personen fragen sollte, die hinter den Szenen die Strippen ziehen, und nach den Männern, die die Lage der Mädchen ausnutzen. Es muss begriffen werden, dass die Mädchen dies nicht aus Spaß oder aus hedonistischen Gründen tun, sondern oft eine ganze Reihe unglücklicher Faktoren eine Rolle spielen. Die Frage nach der Verantwortung der Gesellschaft, der Leute, die die Mädchen anbieten und der Kunden, sollte gestellt werden.

Es gibt Stimmen innerhalb und außerhalb von Japan, die behaupten, Leute ohne Ahnung würden sich hier künstlich aufregen. Ihrer Meinung nach ist das ganze JK business eine kulturelle Erscheinung in Japan, die auch als solche akzeptiert werden sollte. Aber ist ein derartiges Phänomen, das es erlaubt und erleichtert, Minderjährige auszubeuten, wert verteidigt und geschützt zu werden? Doch wohl nicht. Außerdem hat Japan als  Industrienation und Demokratie diverse Vereinbarungen und Standards zum Schutz der Menschenrechte und des Jugendschutzes unterzeichnet.

Es gibt noch ein weiteres Argument, das das JK business von einem feministischen Standpunkt aus verteidigt. Demnach sind JK business und enjokosai Wege, die patriarchalen Strukturen, mit denen Männer Frauen besitzen und Macht über sie ausüben, zu untergraben. Denn solchen Arbeiten nachzugehen, verstößt gegen alle Normen, nach denen sich ein Mädchen oder eine Frau in Japan zu verhalten hat. Somit wird JK business zu einem Weg, die Bestimmungsgewalt über sich und seinen Körper zurückzugewinnen. Die Mädchen bestimmen nun selber über ihren Körper und entscheiden, an wen sie sich wie verkaufen. Ähnliche Argumente hört man auch in der hiesigen Debatte über  Prostitution an sich. Doch ohne weiter darauf eingehen zu wollen, ist zu sagen, dass, solange hier Minderjährige im Spiel sind, ein solches Argument mir ganz und gar nich einleuchten will.
Es bleibt zu hoffen, dass die Gesellschaft durch Engagement wie das von COLLABO beginnt, Dinge zu hinterfragen und vor allem aufhört, die Mädchen pauschal für ihr “schlechtes Benehmen” und “böses Treiben” zu verurteilen. Im Gegenteil, es sollte überlegt werden, wie ihnen geholfen werden kann und wie Männer, die sich hier strafbar machen, effektiv verfolgt werden können.

Die englische Version dieses Beitrags findet sich unter Supply and Demand – Girls for Rent.

Quellen und Infos:

https://www.colabo-official.net/

https://www.youtube.com/watch?v=DNmJ_qv1XMo&lc=z12oh5i4bxqbvzxeu23ehf2pcv3hvphjy04

Gerücht mit einer Prise Wahrheit

Relativ hartnäckig hält sich in reißerischen (meist englischsprachigen) Beiträgen  die Behauptung, dass es in Japan illegal sei, fettleibig zu sein. Das ist natürlich so nicht der Fall.

Japan ist eine Nation, in der sehr viel Wert auf Gesundheit und gesunde Ernährung gelegt wird. Der soziale Druck zum Dünnsein ist ziemlich hoch. Auf vielerlei Weise wird man mehr oder weniger liebevoll darauf aufmerksam gemacht, dass man wohl ein wenig zu viel Speck angesetzt habe (Erfahrungsbericht: https://www.youtube.com/watch?v=wwH3rA8Evow ). Dabei gibt es kaum übergewichtige Menschen in Japan und nur 3,5 % der Bevölkerung gilt als fettleibig.

Getrost lässt sich also sagen, dass Fettleibigkeit eines der geringen Probleme der japanischen Bevölkerung ist. Dennoch gibt es seit 2008 ein umstrittenes Gesetz, dass alle Menschen zwischen 40 und 74 Jahren dazu aufruft, sich einmal jährlich vermessen zu lassen. Für Männer gilt ein Wert von bis zu etwa 85 cm und Frauen bis zu 90 cm als normaler Taillenumfang. Liegen sie darüber, gibt es erstmal keine direkten Konsequenzen. Aber sie werden dann Ziel von Aufklärungskampagnen und Ernährungskursen, denn die einzelnen Gemeinden oder auch Firmen können von staatlicher Seite zur Verantwortung gezogen werden, wenn ein zu hoher Anteil der untersuchten Menschen als fettleibig gilt. Der soziale Druck, noch mehr auf die Figur zu achten, steigt somit weiter. Auch die tatsächliche Wirksamkeit des Gesetzes ist fragwürdig.

Die einzige vernünftige Reaktion ist meiner Meinung nach, diesen Unsinn einfach nicht mitzumachen und den Aufruf getrost zu ignorieren, wenn es denn möglich ist. Manchmal geht die staatliche Fürsorge und der Wunsch im Gesundheitssystem zu sparen zu weit in die falsche Richtung.

Auch als Austauschstudentin sollte ich zu Beginn meiner zwei Semester an der Uni einen Gesundheitscheck durchlaufen. Krankenversichert war ich natürlich so oder so. Und da ich keine Lust hatte, unbekannten Gesundheitsbeamten ohne Notwendigkeit über die Regelmäßigkeit oder Unregelmäßigkeit meiner Menstruation aufzuklären, bin ich schlicht nicht hingegangen. Es schien mir als unverhältnismäßige Einmischung in meine Privatangelegenheiten. Hab’s überlebt.

Der ewige Streit um ein paar Inseln

Relativ unbekannt ist, dass Japan und Russland nach Ende des Zweiten Weltkriegs nie einen Friedensvertrag abgeschlossen haben. Der Kriegszustand ist zwar beendet, doch dem Friedensvertrag steht ein jahrelanger Streit im Weg. Dabei geht es um Territorialansprüche, genauer gesagt um vier Inseln, die zu den Kurilen gehören und damit international Russland zugesprochen werden. Die Inseln Kunashiri, Etorofu, Habomai und Shikotan befinden sich nördlich von Japan und östlich von Russland.

Japan besteht auf „Rückgabe“ aller vier Inseln, während Russland bereit ist, nach Abschluss eines Friedensvertrag zwei der Inseln, Habomai und Shikotan, offiziell Japan zu überlassen. Dabei beruft Russland sich auf die „gemeinsame Deklaration von 1956“, in der die beiden Staaten die Umstände und Folgen eines Friedensvertrages festsetzten. Da Japan nicht bereit ist, sich mit zwei der Inseln zufrieden zu geben, und Russland keinerlei Interesse an einer erneuten Verhandlung über alle vier Inseln zeigt, sind die Fronten verhärtet.

Von erneutem Interesse ist dieser Konflikt mit Blick auf den baldigen Besuch des russischen Präsidenten Putin. Er wird sich am 15. und 16. Dezember zu Gesprächen mit Premierminister Abe in Japan einfinden. Schon im Vorfeld machte Putin beim Interview mit japanischen Medien deutlich, dass er nicht gedenke, den Kurilen-Konflikt anzusprechen, geschweige denn, neu zu verhandeln. Vielmehr warf er den Ball der japanischen Seite zu, indem er von einer „notwendigen Flexibilität Japans“ in dieser Angelegenheit sprach.

In beiderseitigem Interesse unterdes ist natürlich eine Verstärkung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Doch auch hier sieht Putin Probleme, da aufgrund der Lage in der Ukraine von japanischer Seite Russland wirtschaftliche Sanktionen auferlegt worden sind. Er fragt: „Wenn wir solche Bestrafungen erhalten, wie sollen wir dann die wirtschaftlichen Beziehungen auf ein noch besseres Niveau bringen?“

Innerhalb dieser schwierigen Situation scheint auch die Ausweitung der Transsibirischen Eisenbahn bis nach Japan nicht mehr als eine phantastische Idee. Russland strebt an, die Eisenbahnlinie über die Insel Sachalin bis zur japanischen Insel Hokkaidou auszubauen. Dies würde den Warentransport erleichtern und vergünstigen. Auch könnte so die Stillegung einzelner Bahnstrecken auf dem dünn besiedelten Hokkaidou verhindert werden.

Wir können gespannt sein, welche Ergebnisse das Treffen der Regierungschefs bringen wird.

Quellen:

http://www.yomiuri.co.jp/politics/20161213-OYT1T50110.html?from=ytop_navl&seq=01

http://digital.asahi.com/articles/ASJD8627PJD8UTIL057.html?_requesturl=articles%2FASJD8627PJD8UTIL057.html&rm=620

 

Hasshakusama (Frau Acht-Shaku-groß)

Heute gibt es passend zu Halloween eine japanische Gruselgeschichte. Sie trägt den Namen 八尺様 (Hasshakusama) und ist benannt nach einer mysteriösen Frauengestalt, die jungen Männern und Kindern zum Verhängnis wird. Die auserwählten Opfer sterben nach wenigen Tagen der ersten Begegnung. Angelockt werden sie unter anderem, indem Hasshakusama die Stimme von Verwandten nachahmt.

Es kommt vor, dass die Kreatur mehrere Jahre nicht in Erscheinung tritt, weshalb sie mitunter in Vergessenheit gerät. Mit der Stimme eines Mannes gibt sie ein seltsames Lachen von sich, das wie „Po, po, po, —“ klingt. Da ein Shaku (altes japanisches Längenmaß) etwa 30 Zentimeter misst, muss diese gruselige Frauengestalt etwa 240 Zentimeter groß sein.

Dieses böse Wesen kann durch Gebete und Riten an einen Ort gebunden werden.  Es wird dann mithilfe von Buddhastatuen, die am Rande dieser Ortschaft stehen, „versiegelt“ und so daran gehindert, umherzuwandern. Ein Ort, der sich bereit erklärt, diese Gefahr auf sich zu nehmen, genoss in früheren Zeiten durch Abkommen mit den Nachbardörfern viele Vorteile, wie zum Beispiel Vorrechte bei der Wasserversorgung.

Die bekannteste Geschichte von Hasshakusama ist leicht abgewandelt auch im englischsprachigen Raum unter dem Titel Eight-Feet-Tall bekannt. Dort ist der Ich-Erzähler aber ein US-amerikanischer Junge, der seine Ferien bei den Großeltern väterlicherseits in Japan verbringt. Diese ebenfalls sehr gute Version könnt ihr euch beim Hoaxilla-Podcast anhören (es gibt auch noch ein paar mehr Gruselgeschichten dort). Für tokiobanana habe ich mir die japanische Variante vorgenommen und frei nacherzählt. Viel Spaß beim Lesen.

Das Elternhaus meines Vaters ist von uns zu Hause mit dem Auto etwa 2 Stunden entfernt. Es ist ein altes Bauernhaus und mir hat es dort immer schon gut gefallen. Als ich in die Oberschule kam, bin ich oft in den Ferien alleine mit dem Moped dorthin gefahren.

Meine Großeltern haben sich immer sehr darüber gefreut, wenn ich sie besuchen kam. Doch es ist nun schon mehr als 10 Jahre her, dass ich das letzte mal dort gewesen bin. Es ist nicht einfach so, dass ich nicht hingegangen wäre. Ich konnte nicht. Und dafür gibt es einen Grund.

Es war gerade zu Beginn der Frühlingsferien. Das Wetter war gut und ich machte mich auf den Weg zu meinen Großeltern. Es war zwar noch recht kalt, aber ich machte es mir auf der gemütlichen breiten Veranda des alten Hauses bequem und ruhte mich dort aus, als plötzlich ein Laut zu hören war.

„Po, po, po, —“

Es war nicht das Geräusch einer Maschine, sondern es klang wie von einem Menschen. Ich war mir auch nicht sicher, ob es eher wie „Po“ oder „Bo“ klang. Was könnte das sein? Da sah ich auf der hohen Hecke, die den Garten umgab, einen Hut. Aber der Hut lag nicht auf der Hecke; er bewegte sich in eine Richtung. Als er das Ende der hohen Hecke erreichte, sah ich den Träger des Huts. Es war eine Frau, die in ein langes schneeweißes Kleid gekleidet war.

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Aber die Hecke war schon 2 Meter hoch. Wenn also der Kopf der Frau über diese Hecke reichte, wie groß war sie denn dann? Während ich mich noch wunderte, war die Frau mitsamt dem Hut aus meinem Blickfeld verschwunden. Auch das seltsame „Po, po, po, —“ war nicht mehr da.

Hatte sie vielleicht hohe Plateauschuhe getragen, oder war es vielleicht ein Mann in Frauenkleidern mit high heels gewesen? Was anderes kam mir nicht in den Sinn.

Beim Tee im Wohnzimmer erzählte ich meinen Großeltern davon.

„Vorhin hab ich eine riesige Frau gesehen. Oder es war vielleicht ein Mann in Frauenkleidern.“ Unbekümmert tranken sie weiter ihren Tee.„Sie war größer als die Hecke. Sie hatte einen Hut auf und machte so komische Geräusche. ‚Po, po, po‘ oder so“. Kaum hatte ich das gesagt, erstarrten meine Großeltern.

„Wann war das?“, „Wo hast du sie gesehen?“, „Wie viel größer als die Hecke war sie?“, fragte mein sonst so gelassener Großvater mit strenger Miene.

Während er mich weiter ausfragte, ging er in den Flur hinaus zum Telefon. Da er die Schiebetür zuschob, konnte ich nicht hören, wen er anrief oder was gesagt wurde. Meine Großmutter zitterte am ganzen Körper. Als mein Großvater zurückkam, sagte er zu mir: „Du musst heute hier übernachten. Du kannst nicht nach Hause gehen.“

Fieberhaft überlegte ich, ob ich irgendwas furchtbar schlimmes angestellt hätte. Aber es fiel mir nichts ein. Ich war ja auch nicht extra hingegangen, um diese Frau anzugaffen. Sie war alleine wie aus dem Nichts aufgetaucht.

„Ich fahre jetzt und hole Ksan. Großmutter, pass auf den Jungen auf!“ Schon war mein Großvater aus der Tür.

Auf meine wiederholten Fragen, was denn nun überhaupt los sei, antwortet meine Großmutter zögerlich: „Hasshakusama hat Gefallen an dir gefunden. Aber dein Großvater unternimmt was. Du musst dir keine Sorgen machen. Es wird alles gut.“ Es klang nicht sehr überzeugt. Ich war verwirrt, denn ich wusste nicht, was das bedeuten sollte. Als mein Großvater wiederkam, hatte er eine ältere Frau mitgebracht, die ich noch nie gesehen hatte.

„Du steckst in großem Schlamassel, Junge. Hier, nimm das!“ befahl sie und drückte mir einen Papierstreifen mit Gebeten darauf in die Hand. Dann wurde ich in den ersten Stock in ein Zimmer gebracht. Dort waren alle Fenster mit Zeitungspapier verdeckt und darauf waren Papierstreifen mit Schriftzeichen und Symbolen geklebt. In allen vier Zimmerecken standen Schalen mit Salz gegen böse Geister. Auf einem kleinen Holzkasten stand eine Buddhastatue. Außerdem waren zwei Nachttöpfe für mich vorbereitet worden. Langsam bekam ich richtig Angst.

Mein Großvater sah mich todernst an. „Bald ist der Tag vorbei. Du darfst nicht vor morgen aus diesem Zimmer gehen, verstehst du? Weder ich noch Großmutter werden dich rufen oder mit dir sprechen. Erst wenn morgen früh sieben Uhr vorüber ist, erst dann darfst du rauskommen. Ich sage bei euch zu Hause Bescheid.“

„Und lass den Gebetsstreifen, den ich dir gegeben habe, nicht von deiner Haut weichen. Wenn irgendwas passiert, dann bete zu Buddha um Hilfe“, fügte Ksan hinzu. Ich schloss die Tür.

Zwar durfte ich Fernsehen schauen, aber ich konnte mich dadurch nicht ablenken. Mir war auch nicht danach, von den Snacks oder Süßigkeiten zu essen, die meine Großmutter mir gegeben hatte. So kroch ich verängstigt unter meine Decke. Irgendwann bin ich eingeschlafen. Als ich die Augen wieder öffnete, war der Fernseher noch immer an und ich konnte auf meiner Uhr sehen, dass es kurz nach 1 Uhr morgens war. Wäre es doch nur schon morgen! Da hörte ich ein leises klopfendes Geräusch an der Fensterscheibe. Es war nicht so wie kleine Steinchen, die gegen Glas geworfen werden. Es war eher so, als wenn jemand sachte mit den Fingern an eine Scheibe klopft. Konnte der Wind ein solches Geräusch machen? „Lass es den Wind sein, lass es den Wind sein!“ hoffte ich verzweifelt. Um mich zu beruhigen, trank ich den Tee und machte den Fernseher lauter. Aber nichts half.

„He, alles in Ordnung. Du musst keine Angst mehr haben!“, rief plötzlich mein Großvater durch die Zimmertür zu mir. Ohne nachzudenken ging ich rüber zur Tür. Ich wollte gerade aufmachen, als ich mir daran erinnerte, was man vorher zu mir gesagt hatte.

„He, was ist los? Komm doch raus!“

Das war nicht die Stimme meines Großvaters. Sie klang zwar so ähnlich, aber… Ich weiß nicht, woher ich das wusste, aber im gleichen Moment standen mir am Körper alle Haare zu Berge. Ich blickte auf das Salz in der Ecke. Es hatte begonnen, sich zu schwärzen.

Schnell warf ich mich vor der Buddhastatue auf den Boden, umklammerte den Gebetsstreifen und wisperte eindringlich „Bitte hilf mir! Bitte hilf mir!“

„Po, po, po, —“ – da war diese Stimme wieder. Das Klopfen am Fenster wurde lauter. Ich wusste, dass sie nicht so groß sein konnte, aber ich stellte mir vor, wie sie von unten ihre Hand so weit reckte und gegen die Scheibe klopfte. Alles, was ich tun konnte, war weiter zu Buddha zu beten.

Die Nacht kam mir endlos lang vor. Doch selbst auf diese Nacht folgte ein Morgen. Irgendwann liefen im Fernsehen die Morgennachrichten. Die Zeitanzeige in der Ecke der Sendung zeigte 7:13 Uhr. Das Klopfen am Fenster und auch die Stimme waren verklungen. War ich eingeschlafen oder war ich ohnmächtig geworden? Ich wusste es nicht. Das Salz in der Ecke war komplett schwarz.

Meine eigene Uhr zeigte die gleiche Zeit. Ängstlich öffnete ich die Tür. Alle hatten schon auf mich gewartet. Meine Großmutter weinte erleichtert und war überglücklich zu sehen, dass es mir gut ging. Auch mein Vater war hergekommen. Mein Großvater schaute von draußen ins Haus und sagte, wir sollten schnell ins Auto steigen. Ich wusste nicht, woher das Auto kam, aber im Hof stand ein großer Van. Außerdem waren dort viele Männer, die ich nicht kannte.

Ich wurde in die Mitte des Vans, in dem 9 Leute Platz hatten, verfrachtet. Auf dem Beifahrersitz saß Ksan und alle Männer stiegen mit ein. Ich war umgeben von 8 Personen.

„Das ist eine schwierige Sache. Also, du machst dir vielleicht Sorgen, aber du musst jetzt deine Augen schließen und dich nach unten beugen. Wir können nichts davon sehen, aber du kannst es sehen. Bis ich sage, dass es ok ist, darfst du die Augen nicht aufmachen“, sagte der Mann, der rechts von mir saß.

Der kleine Lastwagen meines Großvaters fuhr voran und hinter dem Wagen, in dem ich saß, war das Auto meines Vaters. In dieser Kolonne fuhren wir langsam los.

Nach kurzer Zeit hörte ich Ksan flüstern: „Dies hier ist die kritische Stelle.“ Und sie begann mit einem melodischen Gebet Buddha anzurufen.

„Po, po, po. … po, po. —“

Wieder diese Stimme.

Ich umklammerte den Gebetsstreifen, hatte meine Augen geschlossen und den Kopf gesenkt gehabt, so wie mir gesagt worden ist. Aber ohne es zu wollen, machte ich die Augen ein klein wenig auf und schaute Richtung Scheibe. Ich sah ihr schneeweißes Kleid. Es bewegte sich genauso schnell wie der Wagen. Folgte sie uns in großen Schritten? Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen. Aber es schien, als wollte sie in den Wagen sehen und neigte sich deshalb langsam vor. Unbewusst stieß ich einen leisen Schrei aus.

„Nicht hinsehen!“ kam von der Seite. Erschrocken presste ich die Augen zusammen, drückte das Papier in meinen Händen weiter zusammen und duckte mich runter.

Sie klopfte an die Scheibe des Wagens.

„Hö?“ und „Oh!“ entfuhr es da auch meinen Begleitern. Zwar konnten sie sie nicht sehen, nicht ihre Stimme wahrnehmen, aber das Klopfen hörten auch die anderen. Ksan begann, noch intensiver zu beten.

Nach einer Weile schienen Stimme und Klopfen vorüber zu sein.

„Ein Glück. Wir sind ihr entwischt“ sagte Ksan und alle im Wagen atmeten erleichtert auf.

Wir hielten auf einem breiten Platz und ich wurde zum Wagen meines Vater rüber gebracht. Mein Vater und mein Großvater verneigten sich tief voller Dankbarkeit vor den anderen, als Ksan zu mir kam und den Gebetsstreifen sehen wollte. Ich hatte ihn unbewusst in der Faust zusammengeknüllt. Er war vollständig schwarz geworden. „Es ist zwar nicht unbedingt nötig, aber zur Sicherheit trag diesen neuen Gebetsstreifen noch eine Weile bei dir.“ Sie drückte mir einen neuen Zettel in die Hand. Dann fuhr ich mit meinem Vater nach Hause zurück.

Mein Vater hatte von Hasshakusama gewusst. Als er selbst ein Kind war, ist ein Freund von ihm dieser Kreatur zum Opfer gefallen. Er wusste auch von Leuten, an denen Hasshakusama Gefallen gefunden hatte, und die deshalb weggezogen sind. Alle Männer, die mit im Auto gesessen hatten, hatten eine verwandtschaftliche Beziehung zur Familie meines Vaters. Sie waren also sehr weit entfernte Verwandte von mir. Sie sowie mein Großvater im Wagen vor uns und mein Vater im Wagen hinter uns sollten dabei helfen, Hasshakusama von mir abzulenken. Um dies alles organisieren zu können, musste ich eine Nacht im Zimmer verbringen. Im schlimmsten Fall hätten mein Großvater oder mein Vater als Ersatz für mich als Opfer dienen sollen.

Dies ist also der Grund dafür, warum ich nicht mehr zum Dorf meiner Großeltern gegangen bin. Es sind jetzt fast 10 Jahre vorüber seit diesen Ereignissen. Natürlich habe ich mich inzwischen oft gefragt, ob das nicht doch alles Aberglaube ist und ich nicht ein recht ängstlicher Teenager mit viel Fantasie gewesen bin. Mein Großvater ist vor 2 Jahren gestorben, aber an seiner Beerdigung durfte ich nicht teilnehmen. Auch als es ihm schon schlechter ging, hat er darauf bestanden, dass ich auf keinen Fall herkommen darf. Vor ein paar Tagen habe ich mit meiner Großmutter telefoniert. Sie hatte keine guten Nachrichten.

„Die Buddhastatue, in der Hasshakusama versiegelt worden ist, ist von jemandem zerstört worden. Das ist auch die, die bei dem Weg in die Richtung eures Hauses gestanden hat“ berichtete sie.

Mich beschlich plötzlich ein mulmiges Gefühl.

„Po, po, po, —“ machte es …

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