Am Morgen des nächsten Tages wurden die Schäden sichtbar. Gemeinsam mit den ErzieherInnen und Schwestern habe ich versucht, notdürftig im Wohnbereich der Kleinkindergruppe aufzuräumen. Im Grunde hätten wir es auch lassen können. Aber angesichts von unkontrollierbaren Naturgewalten überkommt die Menschen wohl der Drang, etwas zu tun, etwas zu unternehmen.
Es waren riesige Risse in der Mauer zu sehen. Fliesen waren von den Wänden gesprungen, alles war staubig wie auf einer Baustelle. Von einem Nachbarn haben wir uns ein wenig Wasser besorgt, um mit dem Aufräumen zu beginnen und den Boden zu wischen. Auch der Beton der Straße vor der Einrichtung wies Risse auf. Immer wieder erinnerten uns die Nachbeben daran, dass es noch nicht durchgestanden war.
Nach dem wenigen, was man aktiv tun konnte, blieb nur das Abwarten und Ausharren. Da alle ErzieherInnen des Heimes bei uns waren, war es nicht relevant, ob ich nun in der Turnhalle rumsaß oder nicht. So streifte ich tagsüber durch die verlassenen Straßen und habe einige wenige Bilder gemacht. Direkt Bilder vom Heim oder von der Situation der Kinder, Jugendlichen und Mitarbeiter zu machen, war mir zuwider. Irgendwie empfand ich das als unangebracht; als Katastrophentourismus.
Aufgrund der Kälte und der Angst waren alle recht erschöpft. Ich war irgendwann nicht mehr recht in der Lage, vernünftig mit Stäbchen zu essen, weil meine Hände so sehr zitterten. Ohne Wasser konnten wir uns nicht duschen, keine Toilettenspülung betätigen oder vernünftig Zähneputzen. Diese Kleinigkeiten waren einfach nicht mehr möglich.
Die Mitarbeiter schafften es mithilfe der Vorräte, ein einigermaßen normales Essen zusammenzustellen. Die Portionen waren rationiert, aber ich hatte sowieso keinen großen Appetit. Außerdem sagte ich mir: Japan ist eine Industrienation und kein Land in Afrika. Bald kommt von außen mehr Hilfe und die Lage wird schnell wieder stabil sein, auch wenn es jetzt noch leichte Beben gibt.
Am Sonntag wurde klar, dass weder Busse noch Züge fuhren, da die Straßen und Gleise zu schwer beschädigt waren. Außerdem hörte ich davon, dass ein Atomkraftwerk uns noch zum Problem werden könnte und dass dort irgendwas geschehen sei. Weder wusste ich, wie akut diese Bedrohnung war, noch wo dieses Atomkraftwerk war. Zudem standen für mich die direkten Probleme eindeutig im Vordergrund. Zum Beispiel hatte ein kleiner Junge aus meiner Gruppe am Sonntagmorgen Fieber bekommen.
Zwar war es auch jetzt noch immer am beben, aber tagsüber war es leichter, dieses unsichere und unheimliche Gefühl zu ignorieren. Wohl auch, weil man sich selber bewegen und ablenken konnte. Nachts aber, wenn es stockduster wurde, die Wände zitterten, die Kälte durch die Kleidung kroch und neben dem dumpfen Donnern der Nachbeben die Sirenen von Feuerwehr und Polizei das einzige ist, was zu hören war, dann machte sich die Angst wieder breit.
Es ist ein sehr seltsames Gefühl, wenn man so völlig aus jeglicher Routine geworfen wird und sich plötzlich in einem Katastrophengebiet befindet. Oft dachte ich bei mir: Das ist doch nicht wahr. Es war einfach unbegreiflich für mich. Die Zeit nach dem Beben läuft in meiner Erinnerung oft surreal ab. So als wenn es ein Film ist, den ich mir ansehe.
Von der Außenwelt abgeschnitten, hatte ich keine Ahnung davon, welche Informationen in Deutschland über das Erdbeben durch die Medien gingen. Ich hoffte einfach, dass sie sich wohl nicht zu viele Sorgen machten und alles bald wieder gut sei.