Heute gibt es passend zu Halloween eine japanische Gruselgeschichte. Sie trägt den Namen 八尺様 (Hasshakusama) und ist benannt nach einer mysteriösen Frauengestalt, die jungen Männern und Kindern zum Verhängnis wird. Die auserwählten Opfer sterben nach wenigen Tagen der ersten Begegnung. Angelockt werden sie unter anderem, indem Hasshakusama die Stimme von Verwandten nachahmt.
Es kommt vor, dass die Kreatur mehrere Jahre nicht in Erscheinung tritt, weshalb sie mitunter in Vergessenheit gerät. Mit der Stimme eines Mannes gibt sie ein seltsames Lachen von sich, das wie „Po, po, po, —“ klingt. Da ein Shaku (altes japanisches Längenmaß) etwa 30 Zentimeter misst, muss diese gruselige Frauengestalt etwa 240 Zentimeter groß sein.
Dieses böse Wesen kann durch Gebete und Riten an einen Ort gebunden werden. Es wird dann mithilfe von Buddhastatuen, die am Rande dieser Ortschaft stehen, „versiegelt“ und so daran gehindert, umherzuwandern. Ein Ort, der sich bereit erklärt, diese Gefahr auf sich zu nehmen, genoss in früheren Zeiten durch Abkommen mit den Nachbardörfern viele Vorteile, wie zum Beispiel Vorrechte bei der Wasserversorgung.
Die bekannteste Geschichte von Hasshakusama ist leicht abgewandelt auch im englischsprachigen Raum unter dem Titel Eight-Feet-Tall bekannt. Dort ist der Ich-Erzähler aber ein US-amerikanischer Junge, der seine Ferien bei den Großeltern väterlicherseits in Japan verbringt. Diese ebenfalls sehr gute Version könnt ihr euch beim Hoaxilla-Podcast anhören (es gibt auch noch ein paar mehr Gruselgeschichten dort). Für tokiobanana habe ich mir die japanische Variante vorgenommen und frei nacherzählt. Viel Spaß beim Lesen.
Das Elternhaus meines Vaters ist von uns zu Hause mit dem Auto etwa 2 Stunden entfernt. Es ist ein altes Bauernhaus und mir hat es dort immer schon gut gefallen. Als ich in die Oberschule kam, bin ich oft in den Ferien alleine mit dem Moped dorthin gefahren.
Meine Großeltern haben sich immer sehr darüber gefreut, wenn ich sie besuchen kam. Doch es ist nun schon mehr als 10 Jahre her, dass ich das letzte mal dort gewesen bin. Es ist nicht einfach so, dass ich nicht hingegangen wäre. Ich konnte nicht. Und dafür gibt es einen Grund.
Es war gerade zu Beginn der Frühlingsferien. Das Wetter war gut und ich machte mich auf den Weg zu meinen Großeltern. Es war zwar noch recht kalt, aber ich machte es mir auf der gemütlichen breiten Veranda des alten Hauses bequem und ruhte mich dort aus, als plötzlich ein Laut zu hören war.
„Po, po, po, —“
Es war nicht das Geräusch einer Maschine, sondern es klang wie von einem Menschen. Ich war mir auch nicht sicher, ob es eher wie „Po“ oder „Bo“ klang. Was könnte das sein? Da sah ich auf der hohen Hecke, die den Garten umgab, einen Hut. Aber der Hut lag nicht auf der Hecke; er bewegte sich in eine Richtung. Als er das Ende der hohen Hecke erreichte, sah ich den Träger des Huts. Es war eine Frau, die in ein langes schneeweißes Kleid gekleidet war.
Aber die Hecke war schon 2 Meter hoch. Wenn also der Kopf der Frau über diese Hecke reichte, wie groß war sie denn dann? Während ich mich noch wunderte, war die Frau mitsamt dem Hut aus meinem Blickfeld verschwunden. Auch das seltsame „Po, po, po, —“ war nicht mehr da.
Hatte sie vielleicht hohe Plateauschuhe getragen, oder war es vielleicht ein Mann in Frauenkleidern mit high heels gewesen? Was anderes kam mir nicht in den Sinn.
Beim Tee im Wohnzimmer erzählte ich meinen Großeltern davon.
„Vorhin hab ich eine riesige Frau gesehen. Oder es war vielleicht ein Mann in Frauenkleidern.“ Unbekümmert tranken sie weiter ihren Tee.„Sie war größer als die Hecke. Sie hatte einen Hut auf und machte so komische Geräusche. ‚Po, po, po‘ oder so“. Kaum hatte ich das gesagt, erstarrten meine Großeltern.
„Wann war das?“, „Wo hast du sie gesehen?“, „Wie viel größer als die Hecke war sie?“, fragte mein sonst so gelassener Großvater mit strenger Miene.
Während er mich weiter ausfragte, ging er in den Flur hinaus zum Telefon. Da er die Schiebetür zuschob, konnte ich nicht hören, wen er anrief oder was gesagt wurde. Meine Großmutter zitterte am ganzen Körper. Als mein Großvater zurückkam, sagte er zu mir: „Du musst heute hier übernachten. Du kannst nicht nach Hause gehen.“
Fieberhaft überlegte ich, ob ich irgendwas furchtbar schlimmes angestellt hätte. Aber es fiel mir nichts ein. Ich war ja auch nicht extra hingegangen, um diese Frau anzugaffen. Sie war alleine wie aus dem Nichts aufgetaucht.
„Ich fahre jetzt und hole Ksan. Großmutter, pass auf den Jungen auf!“ Schon war mein Großvater aus der Tür.
Auf meine wiederholten Fragen, was denn nun überhaupt los sei, antwortet meine Großmutter zögerlich: „Hasshakusama hat Gefallen an dir gefunden. Aber dein Großvater unternimmt was. Du musst dir keine Sorgen machen. Es wird alles gut.“ Es klang nicht sehr überzeugt. Ich war verwirrt, denn ich wusste nicht, was das bedeuten sollte. Als mein Großvater wiederkam, hatte er eine ältere Frau mitgebracht, die ich noch nie gesehen hatte.
„Du steckst in großem Schlamassel, Junge. Hier, nimm das!“ befahl sie und drückte mir einen Papierstreifen mit Gebeten darauf in die Hand. Dann wurde ich in den ersten Stock in ein Zimmer gebracht. Dort waren alle Fenster mit Zeitungspapier verdeckt und darauf waren Papierstreifen mit Schriftzeichen und Symbolen geklebt. In allen vier Zimmerecken standen Schalen mit Salz gegen böse Geister. Auf einem kleinen Holzkasten stand eine Buddhastatue. Außerdem waren zwei Nachttöpfe für mich vorbereitet worden. Langsam bekam ich richtig Angst.
Mein Großvater sah mich todernst an. „Bald ist der Tag vorbei. Du darfst nicht vor morgen aus diesem Zimmer gehen, verstehst du? Weder ich noch Großmutter werden dich rufen oder mit dir sprechen. Erst wenn morgen früh sieben Uhr vorüber ist, erst dann darfst du rauskommen. Ich sage bei euch zu Hause Bescheid.“
„Und lass den Gebetsstreifen, den ich dir gegeben habe, nicht von deiner Haut weichen. Wenn irgendwas passiert, dann bete zu Buddha um Hilfe“, fügte Ksan hinzu. Ich schloss die Tür.
Zwar durfte ich Fernsehen schauen, aber ich konnte mich dadurch nicht ablenken. Mir war auch nicht danach, von den Snacks oder Süßigkeiten zu essen, die meine Großmutter mir gegeben hatte. So kroch ich verängstigt unter meine Decke. Irgendwann bin ich eingeschlafen. Als ich die Augen wieder öffnete, war der Fernseher noch immer an und ich konnte auf meiner Uhr sehen, dass es kurz nach 1 Uhr morgens war. Wäre es doch nur schon morgen! Da hörte ich ein leises klopfendes Geräusch an der Fensterscheibe. Es war nicht so wie kleine Steinchen, die gegen Glas geworfen werden. Es war eher so, als wenn jemand sachte mit den Fingern an eine Scheibe klopft. Konnte der Wind ein solches Geräusch machen? „Lass es den Wind sein, lass es den Wind sein!“ hoffte ich verzweifelt. Um mich zu beruhigen, trank ich den Tee und machte den Fernseher lauter. Aber nichts half.
„He, alles in Ordnung. Du musst keine Angst mehr haben!“, rief plötzlich mein Großvater durch die Zimmertür zu mir. Ohne nachzudenken ging ich rüber zur Tür. Ich wollte gerade aufmachen, als ich mir daran erinnerte, was man vorher zu mir gesagt hatte.
„He, was ist los? Komm doch raus!“
Das war nicht die Stimme meines Großvaters. Sie klang zwar so ähnlich, aber… Ich weiß nicht, woher ich das wusste, aber im gleichen Moment standen mir am Körper alle Haare zu Berge. Ich blickte auf das Salz in der Ecke. Es hatte begonnen, sich zu schwärzen.
Schnell warf ich mich vor der Buddhastatue auf den Boden, umklammerte den Gebetsstreifen und wisperte eindringlich „Bitte hilf mir! Bitte hilf mir!“
„Po, po, po, —“ – da war diese Stimme wieder. Das Klopfen am Fenster wurde lauter. Ich wusste, dass sie nicht so groß sein konnte, aber ich stellte mir vor, wie sie von unten ihre Hand so weit reckte und gegen die Scheibe klopfte. Alles, was ich tun konnte, war weiter zu Buddha zu beten.
Die Nacht kam mir endlos lang vor. Doch selbst auf diese Nacht folgte ein Morgen. Irgendwann liefen im Fernsehen die Morgennachrichten. Die Zeitanzeige in der Ecke der Sendung zeigte 7:13 Uhr. Das Klopfen am Fenster und auch die Stimme waren verklungen. War ich eingeschlafen oder war ich ohnmächtig geworden? Ich wusste es nicht. Das Salz in der Ecke war komplett schwarz.
Meine eigene Uhr zeigte die gleiche Zeit. Ängstlich öffnete ich die Tür. Alle hatten schon auf mich gewartet. Meine Großmutter weinte erleichtert und war überglücklich zu sehen, dass es mir gut ging. Auch mein Vater war hergekommen. Mein Großvater schaute von draußen ins Haus und sagte, wir sollten schnell ins Auto steigen. Ich wusste nicht, woher das Auto kam, aber im Hof stand ein großer Van. Außerdem waren dort viele Männer, die ich nicht kannte.
Ich wurde in die Mitte des Vans, in dem 9 Leute Platz hatten, verfrachtet. Auf dem Beifahrersitz saß Ksan und alle Männer stiegen mit ein. Ich war umgeben von 8 Personen.
„Das ist eine schwierige Sache. Also, du machst dir vielleicht Sorgen, aber du musst jetzt deine Augen schließen und dich nach unten beugen. Wir können nichts davon sehen, aber du kannst es sehen. Bis ich sage, dass es ok ist, darfst du die Augen nicht aufmachen“, sagte der Mann, der rechts von mir saß.
Der kleine Lastwagen meines Großvaters fuhr voran und hinter dem Wagen, in dem ich saß, war das Auto meines Vaters. In dieser Kolonne fuhren wir langsam los.
Nach kurzer Zeit hörte ich Ksan flüstern: „Dies hier ist die kritische Stelle.“ Und sie begann mit einem melodischen Gebet Buddha anzurufen.
„Po, po, po. … po, po. —“
Wieder diese Stimme.
Ich umklammerte den Gebetsstreifen, hatte meine Augen geschlossen und den Kopf gesenkt gehabt, so wie mir gesagt worden ist. Aber ohne es zu wollen, machte ich die Augen ein klein wenig auf und schaute Richtung Scheibe. Ich sah ihr schneeweißes Kleid. Es bewegte sich genauso schnell wie der Wagen. Folgte sie uns in großen Schritten? Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen. Aber es schien, als wollte sie in den Wagen sehen und neigte sich deshalb langsam vor. Unbewusst stieß ich einen leisen Schrei aus.
„Nicht hinsehen!“ kam von der Seite. Erschrocken presste ich die Augen zusammen, drückte das Papier in meinen Händen weiter zusammen und duckte mich runter.
Sie klopfte an die Scheibe des Wagens.
„Hö?“ und „Oh!“ entfuhr es da auch meinen Begleitern. Zwar konnten sie sie nicht sehen, nicht ihre Stimme wahrnehmen, aber das Klopfen hörten auch die anderen. Ksan begann, noch intensiver zu beten.
Nach einer Weile schienen Stimme und Klopfen vorüber zu sein.
„Ein Glück. Wir sind ihr entwischt“ sagte Ksan und alle im Wagen atmeten erleichtert auf.
Wir hielten auf einem breiten Platz und ich wurde zum Wagen meines Vater rüber gebracht. Mein Vater und mein Großvater verneigten sich tief voller Dankbarkeit vor den anderen, als Ksan zu mir kam und den Gebetsstreifen sehen wollte. Ich hatte ihn unbewusst in der Faust zusammengeknüllt. Er war vollständig schwarz geworden. „Es ist zwar nicht unbedingt nötig, aber zur Sicherheit trag diesen neuen Gebetsstreifen noch eine Weile bei dir.“ Sie drückte mir einen neuen Zettel in die Hand. Dann fuhr ich mit meinem Vater nach Hause zurück.
Mein Vater hatte von Hasshakusama gewusst. Als er selbst ein Kind war, ist ein Freund von ihm dieser Kreatur zum Opfer gefallen. Er wusste auch von Leuten, an denen Hasshakusama Gefallen gefunden hatte, und die deshalb weggezogen sind. Alle Männer, die mit im Auto gesessen hatten, hatten eine verwandtschaftliche Beziehung zur Familie meines Vaters. Sie waren also sehr weit entfernte Verwandte von mir. Sie sowie mein Großvater im Wagen vor uns und mein Vater im Wagen hinter uns sollten dabei helfen, Hasshakusama von mir abzulenken. Um dies alles organisieren zu können, musste ich eine Nacht im Zimmer verbringen. Im schlimmsten Fall hätten mein Großvater oder mein Vater als Ersatz für mich als Opfer dienen sollen.
Dies ist also der Grund dafür, warum ich nicht mehr zum Dorf meiner Großeltern gegangen bin. Es sind jetzt fast 10 Jahre vorüber seit diesen Ereignissen. Natürlich habe ich mich inzwischen oft gefragt, ob das nicht doch alles Aberglaube ist und ich nicht ein recht ängstlicher Teenager mit viel Fantasie gewesen bin. Mein Großvater ist vor 2 Jahren gestorben, aber an seiner Beerdigung durfte ich nicht teilnehmen. Auch als es ihm schon schlechter ging, hat er darauf bestanden, dass ich auf keinen Fall herkommen darf. Vor ein paar Tagen habe ich mit meiner Großmutter telefoniert. Sie hatte keine guten Nachrichten.
„Die Buddhastatue, in der Hasshakusama versiegelt worden ist, ist von jemandem zerstört worden. Das ist auch die, die bei dem Weg in die Richtung eures Hauses gestanden hat“ berichtete sie.
Mich beschlich plötzlich ein mulmiges Gefühl.
„Po, po, po, —“ machte es …
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