Ein Großteil aller Minderjährigen, die in staatliche Obhut kommen, wird in klassischen Einrichtungen des Sozialsystems untergebracht (siehe dazu Einrichtungen des Kinder- und Jugendschutzes in Japan). Nach Möglichkeit soll eine Rückführung in die eigentliche Familie durchgeführt werden. Ist dies nicht machbar, verbringen Kinder und Jugendliche oft viele Jahre im Heim.
Bereits vor einigen Jahren wurden in der japanischen Politik Stimmen hörbar, die eine verstärkte Nutzung von Pflegefamilien u. ä. als Alternative fordern. Dieses Umdenken setzte mit der Reform des Sozialgesetzes von 2016 ein, in der Japan sich erstmals auf neue Vorgehensweisen festlegte und auch die Präfekturen und Verwaltungseinheiten darauf verpflichtete. Gegenwärtig leben noch immer 80 % der betreuten Kinder und Jugendlichen in sozialen Einrichtungen. Ziel der Regierung ist es, bis zum Jahr 2024 etwa 75 % aller unter Dreijährigen in Pflegefamilien unterzubringen. Doch nur ein geringer Anteil der Präfekturen und Verwaltungseinheiten haben sich vergleichbar ehrgeizige Ziele gesetzt. Ist der Wandel von der Einrichtung in die Pflegefamilie überhaupt machbar?
Kazuhiro Kamikado, Professor der Waseda-Universität und Kinderpsychiater, setzt sich für diesen Wandel ein und wünscht sich, dass Kinder in staatlicher Betreuung in einer möglichst familienähnlichen Umgebung aufwachsen können. Um dies zu fördern, hat er mit anderen ein „Forschungsinstitut für soziale Fürsorge“ ins Leben gerufen. Dieses soll der Politik die nötigen wissenschaftlichen Hintergrunddaten liefern und eine Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure erleichtern. Im Interview mit der Mainichi-Shimbun legt er dar, warum eine Pflegefamilie generell einer Heimunterbringung vorzuziehen ist. Auch der aktuelle Stand der Entwicklung wird angesprochen. Es folgt eine Zusammenfassung seiner Aussagen.
Wenn ein Leben der Kinder und Jugendlichen bei der eigenen Familie nicht möglich ist, sei es aufgrund von Gewalt, Misshandlung oder auch Krankheit oder Armut der Familie, ist als nächste Lösung immer die Unterbringung in Pflegefamilien oder Adoption angezeigt. Erst wenn auch dies scheitert, sollten seiner Meinung nach Staat und lokale Gemeinden die Kinder in kleinen, familienähnlichen Einrichtungen betreuen lassen. Kamikado untermauert diesen Ansatz mit Erkenntnissen aus Großbritannien. Dort wird das Motto „weg vom Heim, hin zur Pflegefamilie“ seit den 70er Jahren energisch verfolgt. Diese Entwicklung wurde parallel durch universitäre Forschung und Studien überwacht und betreut. So lassen sich Heimunterbringung und Aufwachsen in einer Pflegefamilie vergleichen. Diesen Beitrag der Forschung möchte Kamikado mit seinem Institut und ähnlichen Stellen landesweit für Japan übernehmen. Er sieht einen großen Bedarf an belastbaren empirischen Daten, die zur Umsetzung der Ziele essenziell sind.
Im Interview macht er deutlich, dass eine Rückführung in die eigentliche Familie weiterhin Ziel bleiben soll. Doch selbst dann ist es besser für ein Kind, in einer Pflegefamilie untergebracht zu werden und nicht im Heim „geparkt“ zu sein, bis sich die Umstände geändert haben. Grund dafür sind entwicklungspsychologische Aspekte. Ein Aufwachsen in familiären Kontexten ist nachweislich besser für die Entwicklung und das Wohlbefinden von Minderjährigen. Sie brauchen ein gefestigtes Familienumfeld und die Möglichkeit, zu immer gleichen Erwachsenen eine tiefe vertrauensvolle Beziehung aufbauen zu können. Dies gilt umso mehr, je kleiner das betroffene Kind ist. Kamikado nennt ein Beispiel aus der Geschichte: Nach Zusammenbruch der Diktatur in Rumänien haben Forscher in den 70er und 80er Jahren Kinder untersucht, die lange Zeit im Heim gelebt hatten. Es zeigte sich, dass sich bei den Kindern, die nun in Pflegefamilien heranwuchsen, die kognitiven Fähigkeiten deutlich verbesserten. Dieser Aufholeffekt war besonders groß bei Kindern unter 3 Jahren, weshalb es für diese Gruppe besonders wichtig ist, in einem familiären Umfeld zu leben.
Es liegt in der Natur der Sache, dass Kinder in sozialen Einrichtungen jeden Tag mit einer Vielzahl von Erwachsenen zu tun haben. Der jeweilige Verantwortliche ist innerhalb kurzer Zeit immer ein anderer. Im Hintergrund gibt es einen bestimmten Zeitplan, der eingehalten werden muss. Da bleibt einfach kein Raum für Dinge, die in einer Familie Platz finden könnten. Zwar ist das Ausmaß dieser Lücke sicher von Einrichtung zu Einrichtung verschieden, aber dieses Problem ist systemimmanent.
Hier liegt für Kinderpsychiater Kamikado auch einer der Gründe für psychologische Auffälligkeiten einer großen Gruppe von Heimkindern. Diese Patienten haben nicht nur mit Erfahrungen von Gewalt und Vernachlässigung zu kämpfen. Erschwerend kommen verschiedene Arten von Bindungsstörungen hinzu, da sie als Babys und Kleinkinder keine „sichere Basis“ gehabt hatten. Derartige tiefgreifende und komplexe Probleme lassen sich nur unzureichend mit Medikamenten lösen. Was eigentlich nötig wäre, ist ein sehr hohes Maß an Sicherheitsgefühl und Stabilität. Aber dies zu erreichen, ist nicht ohne Weiteres zu bewerkstelligen, vor allem nicht im Heimkontext. Deshalb ist er ein Verfechter des „weg vom Heim, hin zur Pflegefamilie“-Prinzips.
Doch wie sollen diese Ziele erreicht werden? Laut japanischer Regierung sollen bis 2024 mindestens 75 % der Kinder unter 3 Jahren, bis zum Jahr 2026 mindestens 75 % aller Vorschulkinder und bis zum Jahr 2029 alle übrigen Schulkinder in Pflegefamilien untergebracht werden. Eine Schlüsselrolle in der Umsetzung spielen für Kamikado die sog. Fostering-Agenturen.
Gegenwärtig läuft es so, dass die Säuglingsheime, Kinderheime, NPOs usw. von der Erziehungsberatungsstelle (jidō sōdanjo) eine Unterbeauftragung erhalten und als Fostering-Agentur tätig werden (siehe dazu Überblick in Einrichtungen des Kinder- und Jugendschutzes in Japan). Von der Anwerbung möglicher Pflegeeltern über Schulung, Bewertung der Anfrage bis hin zu der Unterstützung, die auch nach Beginn der eigentlichen Pflege geleistet wird, muss die jeweilige Einrichtung alles alleine stemmen. Dies ist ein großer Mehraufwand, der nicht nebenher betrieben werden kann. Kamikado schlägt vor, bei den Säuglingsheimen anzusetzen und dort Veränderungen auf den Weg zu bringen. Ihre Funktion und ihre Befugnisse müssen ausgeweitet werden. Einige von ihnen bieten bereits einen Pflegeberatungsdienst an, haben eine Beratungsstelle für Schwangere, unterstützen Familien ganz allgemein in Erziehungsfragen und fördern Adoptionen von fremden Kindern. Hier ändert sich also auch der Fokus der Einrichtung. Die Betreuung und „Organisation“ der Säuglinge rückt in den Hintergrund und eine permanente Lösung mit dauerhafter Sicherheit für das jeweilige Kind gerät in den Fokus. Durch eine Änderung auch in der Denkweise, wie man eine soziale Einrichtung betreibt, lässt sich der Wandel weiterbringen. Dazu muss die nötige Unterstützung und Infrastruktur geschaffen bzw. ausgeweitet werden. Diese ersten Ansätze hält Kamikado für vielversprechend.
Auch die Finanzierung von sozialen Einrichtungen der Kinder- und Jugendfürsorge muss überdacht werden. Da die öffentlichen Gelder nach der Anzahl der Kinder festgelegt werden, erschwert die Abgabe von Kindern an Pflegefamilien auch die Verwaltung der Einrichtung. Damit sie trotzdem weiter betrieben werden können, braucht es hier eine Lösung.
Bedenken zum Wandel von den Einrichtungen hin in die Pflegefamilien kommen vor allem von den örtlichen Gemeinden und den Verantwortlichen der Einrichtungen. Sie prognostizieren einen Anstieg gescheiterter Vermittlungsversuche. Kamikado hält diese Bedenken für normal, bleibt aber mit Blick darauf, dass im Grunde alle Akteure das Beste für die Kinder und Jugendlichen wollen, zuversichtlich. Das angesprochene Problem ist durch eine intensivere Schulung und Nachbetreuung der Pflegeeltern zu lösen. Wiederum ist Großbritannien Vorbild. Kamikado möchte ein „Fostering Change Programm“ auf ganz Japan ausweiten, das sich an Pflegeeltern richtet, die gerade ein Kind aufgenommen haben. Dreimal in der Woche über 12 aufeinanderfolgende Wochen finden thematisch getrennte Sitzungen statt. Dort können konkret Probleme angesprochen und „unverständliches“ Verhalten des Kindes analysiert werden.
Dieses Fostering-Change-System gibt es seit 2016 in Japan. Einige Jahre später hatten bereits 53 Standorte dieses System übernommen. Nicht nur die Mitarbeiter der jidō sōdanjo und die Pflegeeltern selbst, auch das Personal der Einrichtungen haben teilweise mit großem Interesse an den Programmen teilgenommen.
Alles in allem ist Kamikado guten Mutes, dass ein Wandel zum Wohle der Minderjährigen möglich ist. Dafür ist es aber unabdingbar, dass Erkenntnisse, die unterwegs gewonnen werden, einfließen und ernst genommen werden.
Das Bemühen der japanischen Regierung, die Anteile der Unterbringung in Pflegefamilien oder kleinen Gruppen zu fördern, halte ich für sehr begrüßenswert. Umso besser, wenn durch universitäre Projekte die Umsetzung zudem betreut und evaluiert wird!
Quelle: https://mainichi.jp/premier/health/articles/20210210/med/00m/100/014000c
Ein Gedanke zu „Die Kinder des japanischen Staates“