Der Montag begann mit einer guten Nachricht, denn endlich war der Strom wieder da. Sofort suchte ich die Heimleiterin auf und bat darum, das Telefon benutzen zu dürfen, um zu Hause in Deutschland bei meiner Familie anzurufen. Sie gab noch zu bedenken, dass es in Deutschland gerade mitten in der Nacht war, aber ich war mir hundertprozentig sicher, dass ich jemanden erreichen würde. Ich hatte recht; nach wenigen Augenblicken hatte ich meinen Bruder am anderen Ende der Leitung. Er rief mich zurück, damit das Telefon im Büro frei blieb.
Ich war noch dabei zu versichern, dass es mir gut geht, als mein Bruder begann darzulegen, welche Gefahr von dem Atomreaktor in Fukushima ausging. Das ganze sei kein Spaß und wir sollten alle zusehen, dass wir von dort wegkämen. …. Von dieser Nachricht war ich mehr oder weniger einfach geschockt. … Sprachlos hörte ich mir an, wie nach meinem Bruder meine Eltern in ähnlicher Weise auf mich einredeten. Außerdem sagte mein Vater, dass ich mich sofort mit der deutschen Botschaft in Tokyo in Verbindung setzen sollte, damit die mir helfen können. Ich nickte, stammelte ein ‚ja‘ oder ‚hai‘ und merkte, wie sich langsam Panik in mir breit machte. Vorerst beendeten wir das Gespräch, damit ich in Tokyo anrufen konnte. Aber gleich danach sollte ich mich wieder zu Hause melden.
Ich legte auf, atmete durch, und machte mich auf die Suche nach der Heimleiterin, um ihr von der Situation zu erzählen. Da ich sie nicht sofort finden konnte, rief ich schnell meinen Freund in Yokohama an. Noch während wir sprachen, kam die Leiterin vorbei, ich legte auf und wir gingen zusammen in ihr Büro zurück, um die Botschaft anzurufen. Dort war kein Durchkommen für uns. Alle Leitungen waren belegt.
Wie verabredet, telefonierte ich wieder mit meiner Familie. Sie hatten regelrecht einen Fluchtplan für mich entworfen und ich musste mir alle Mühe geben, dem zu folgen. Punkt eins: Geld auftreiben; Punkt zwei: immer wieder versuchen, zur Botschaft durchzukommen; Punkt drei: Abreise vorbereiten. Sollte Punkt zwei nicht funktionieren, müsste ich versuchen, mit Bus, Bahn oder mit Taxi von dort wegzukommen. Der nächstgelegene Flughafen war in der Stadt Akita, die sich nordwestlich von Ichinoseki befindet. Von dort sollte ich einen Flug entweder nach Norden nach Sapporo oder nach Süden Richtung Tokyo/Yokohama nehmen. Nachdem sie mir diese Schritte eingetrichtert hatten, sagten sie mir nochmals, dass ich auf keinen Fall im Kinderheim bleiben könnte. Denn ich könnte sowieso nicht helfen und in einer solchen Situation müsse man auch an sich selber denken.
Ich wusste, dass sie recht hatten und ich spürte ihre Sorge. Meine Familie neigt nicht zu Gefühlsausbrüchen oder gar hysterischem Verhalten. Gerade deshalb merkte ich die Ernsthaftigkeit der Lage an der Intensität, mit der sie auf mich einredeten und zugleich versuchten, mich nicht unnötig zu beunruhigen.
Mit aller Mühe versuchte ich mich auf den nächsten Schritt zu konzentrieren. Geld besorgen. Zwar hatte ich eine Kreditkarte dabei, aber wer schon einmal in Japan war, weiß, dass Bargeld oftmals lieber gesehen wird. Vor allem in einer solchen Lage konnte es nicht verkehrt sein, genug Bargeld zu haben. Ohne Umschweife ging ich in die Stadt, in der Hoffnung, irgendwo einen funktionierenden Geldautomaten zu finden. Weder die kleineren sogenannten Combini noch das große Einkaufzentrum, wo ich hätte Geld abheben können, hatten geöffnet. Die Straßen der Stadt waren mit Autos zugestopft. Vielleicht waren sie auch auf der Suche nach geöffneten Geschäften oder auf dem Weg raus aus der Stadt, weg aus der Gefahrenzone.
Zurück im Heim konnte ich bei der Botschaft noch immer niemanden erreichen. Es blieb mir also nur, den von meiner Familie vorgezeichneten Plan in Angriff zu nehmen. Plötzlich stand ich furchtbar allein da. Ich würde losfahren, ungewiss, ob ich an irgendeinem Punkt einfach nicht mehr weiterkommen würde. Und auch ohne Handy. Da ich nur für ein paar Wochen geplant hatte, in Japan zu sein, hatte ich mir nicht extra ein Handy besorgt.
Der Entschluss stand fest. Ich musste mit einem Taxi, da Busse und Bahnen nicht fuhren, bis nach Akita druchkommen. Gücklicherweise war ein Taxiunternehmen bereit, den Versuch zu wagen. Sie merkten aber an, dass es wohl um die 60.000 Yen kosten würde. Da mein Vater mir ausdrücklich gesagt hatte, dass Geld nun wirklich keine Rolle spielte, habe ich das Angebot angenommen. Zu meiner großen Erleichterung bot die Heimleiterin zudem an, mir genügend Bargeld zu geben.
So schnell ich konnte, packte ich meine wenigen Sachen zusammen und verabschiedete mich von den Kindern, MitarbeiterInnen und Schwestern. Überfordert von der Lage und mit einem schlechten Gewissen ihnen gegenüber konnte ich die Tränen nicht zurückhalten. Ich fühlte mich als Verräterin, konnte ihnen aber nicht helfen. Unterwegs nach Akita sah ich verlassene Züge, die einfach auf Brücken mitten in der Landschaft standen. Lange Zeit fuhren wir über Landstraßen oder Bundesstraßen. Erst später konnten wir auf die Autobahn wechseln. Nach etwa 2 1/2 Stunden erreichten wir den kleinen Flughafen.
Erst in dieser Situation habe ich eine Ahnung davon bekommen, wie sehr Menschen, die zur Flucht gezwungen sind, innerlich zerrissen sein müssen. Sie können wegen der Gefahr nicht bleiben, wollen aber zugleich nicht gehen, weil es ihre Heimat, ihre Familie oder liebe Menschen sind, die sie zurücklassen müssen.